Bilder gegen das Vergessen (2019/2022)

Ein französisch-deutsches Projekt von Nancy Jahns und Christian Gattinoni – nur in Frankreich bisher veröffentlicht

Vorbemerkung. Der folgende Text gilt einem Projekt, das zwei Künstler im Auftrag eines Departments der Universität Rennes mit deutschen und französischen Schülerinnen und Schülern erarbeitet und realisiert haben. Im Zentrum steht eines der französischen Abschiebelager für Menschen jüdischer Herkunft, die in die nationalsozialistischen Vernichtungslager transportiert wurden. Gleichwohl dreht es sich nicht allein um die kollektive Erinnerung in beiden Ländern, sondern auch um die Möglichkeiten und Grenzen der Fotografie, die gerne als „kollektives Gedächtnis“ apostrophiert wird, und diese Bürde über 80 Jahre später nur noch in einer speziellen Verwendung zu leisten vermag. Der Text wurde von der Universität bloß im Internet und in französischer Übersetzung veröffentlicht. Weil er mir aus prinzipiellen Erwägungen sehr wichtig ist, lege ich auf meiner Website die leicht überarbeite deutsche Fassung vor. K.H.

In der westlichen Hemisphäre ist der Ursprungsmythos der Bilder des Erinnerns an Abwesende und Abwesendes verknüpft. Plinius der Ältere erzählt in seiner „Historia naturalis“ von der Tochter des Töpfers Butades, die beim Abschied ihres Geliebten einen Schattenriss seines Gesichts in die Wand gravierte, um ihn auch trotz seiner leiblichen Nicht-Anwesenheit bei sich zu wissen. Ein solches Bild befeuerte beständig die Erinnerung und verhinderte das Vergessen. Es vertrat den Abwesenden in effigie, war sozusagen sein Stellvertreter.

Die frühesten bekannten Bildnisse dienten dem Ahnenkult. Sie standen in enger Verbindung mit dem Todeskult. Sie bewahrten die Verstorbenen im Gedächtnis nachfolgender Generationen und versprachen ihnen ein Leben nach dem Tode: In der Form, dass sie nicht vergessen werden! Noch Roland Barthes gründete seine phänomenologische Theorie der Fotografie auf einem anspruchslosen Porträt seiner Mutter aus der Zeit, bevor er geboren wurde. Daraus entwickelte er seine These, wonach bei der Betrachtung einer Fotografie meist etwas Unerwartetes, vielleicht nur Nebensächliches oder Zufälliges, ein Detail, eine Geste, eine derart tiefe emotionale Reaktion entzünden könne, welche die jeweiligen Betrachter buchstäblich treffe. Deshalb nennt er das Phänomen „Punctum“. Fotografische Bilder vermittelten zwar generell die schmerzliche Einsicht des „Es-ist-so-gewesen“, aber das „Punctum“ stelle eine persönliche Verknüpfung her. In der bewusst gewählten grammatikalischen Form des Perfektums verschmelzen Vergangenheit und Gegenwart. Denn bei jedem Sehen der Bilder erneuert sich, was sie zeigen und dadurch „vergegenwärtigen“. Jeder Anstoß, sich zu erinnern, holt das Vergangene in die Gegenwart zurück, baut eine Brücke.

Letzteres gilt nicht nur für fotografierte Bilder. Bilder anderer Herkunft mobilisieren das Gedächtnis ebenfalls, jedoch ohne die Gewähr des „So“-Gewesen-Seins, dessen „Authentizität“. Von vielen ist es sogar der beabsichtigte Zweck. Denn der Blick, in dem sich das „so“ formt, wandelt sich permanent. Die optische Wahrnehmung ist das Gedächtnis eine Leistung des Gehirns. Dennoch operiert das Gehirn erheblich umfassender und genauer als die optische Wahrnehmung. Es verwandelt diese erst in Sehen.1 Im instinktiven Habitus der Tiere sind Hirn und Körper eins, im reflexiven der Menschen scheinen sie unabhängig voneinander tätig zu sein. Was Täuschung ist. Und wie die optische Wahrnehmung ist auch das Erinnern ein physiologischer Prozess, Sehen und Erinnern sind aktive physiologische, keine passiven Vorgänge. Wer Schlimmes erlitten hat, wird mitunter von den Erinnerungen überwältigt. Sie erfassen den gesamten Körper. Der verkrampft und schüttelt sich. Die Traumata haben sich in ihn eingegraben und brechen wieder auf.

Daher wenden manche den Blick ab, wenn sie auf Bildern eine Person erkennen, ein Ereignis, das sie nicht ertragen können – oder nicht ertragen zu können glauben. Wie andere nicht in etwas hineingezogen werden wollen, in das Gemenge, das vor ihren Augen geschieht. Dessen Zeuge sie gleichwohl werden, weil selbst das unwillkürliche, ganz zu schweigen vom bewussten Abwenden, bereits ein, wie auch immer unvollständiges Ergebnis des Wahrgenommenen ist und in den Speicher des Gehirns gelangt. Meistens wird es verdrängt und bisweilen erzeugt es ein auch ein Trauma. Unter Umständen vermag das Wegsehen wegen unterlassener Hilfe eine Strafe zur Folge haben. Viele Deutsche schauten zu, als ihre Mitbürger aus ihren Häusern vertrieben wurden, nachdem sie offiziell als Juden markiert worden waren.

Bilder sagen mehr als 1000 Worte, lautet ein früher häufig zitiertes Wort von Kurt Tucholsky. Infolgedessen ist die Bild gewordene Wahrheit auch immer eine vieldeutige, eine von vielen möglichen Wahrheiten. Zum Beispiel diejenige, die man als Betrachter in das Bild hineinprojiziert. Das triumphale Bild des Siegers einer Schlacht führt in der Regel auch die Besiegten vor, aber in der Rolle der Opfer. Je nach Perspektive, aus der man es anblickt, verbreitet es Stolz oder Trauer oder Abscheu. Den Sieger und seine Anhänger sollte es mit einem Überlegenheitsgefühl erfüllen, die Besiegten mit Schrecken.

Es gibt Bilder, die viele nicht sehen wollen. Bei den einen lösen sie Horror aus, bei den anderen umgekehrt eine geheime Faszination, eine Angstlust. Sie haben sich wie das Bilderaufkommen insgesamt seit dem vergangenen Jahrhundert ungeahnt vermehrt. Vor allem durch die technischen und elektronischen Medien, Fotografie, Film, Video und Internet. Diese Medien haben die Bilder demokratisiert. Sie haben die Bilder den Mächtigen, die vorher allein darüber verfügten, aus der Hand genommen und allen Menschen, unabhängig von sozialer Stellung und handwerklichem Geschick zur freien Verfügung überantwortet. Von der Bilderflut ist bisweilen die Rede, und manche Kulturkritiker argwöhnen, ihre Wirkung neutralisiere sich wechselseitig.

Richtig ist, dass inzwischen an einem Tag mehr Bilder produziert werden als in den Jahrhunderten der schriftlosen Vor- und Frühgeschichte. Damit einher gegangen ist auch ein Funktionswandel. Denn die Welt, die sie in ihren technischen und elektronischen Formaten aufscheinen lassen, hat sich ebenso verändert, wie ihr Status in dieser Welt. Intensiver als je zuvor greifen sie in das Verhältnis zwischen Menschen und Welt ein, indem sie dank ihrer Allgegenwart inzwischen einen unermesslichen Einfluss auf die Art und Weise nehmen, wie die Menschen ihre Alltagswelt visuell erfahren. Wie sie die optische Wahrnehmung manipulieren, in sie eingreifen, was sie mit den Betrachtern anstellen, ist umstritten und bisher empirisch nicht nachgewiesen. Aber allein der Umstand, dass der „mediale“, der technisch und elektronisch konstruierte Blick weithin als natürlicher Blick begriffen und empfunden wird, ist aufschlussreich.

Darüber hinaus schaffen die Bilder auch Gedächtnis. Gedächtnis selbst für diejenigen, die das auf Bildern Gezeigte nicht gesehen noch davon gehört haben. Das kollektive Gedächtnis werde, sagt man, in den Archiven, den Bild-Archiven aufbewahrt. Wer die Ereignisse nicht erlebt hat, an die erinnert wird oder werden soll, kann sie sich durch Lektüre von Texten oder dem Anschauen von Bildern gleichsam einverleiben. So eindringlich im Übrigen, dass er sie von erlebten nicht zu unterscheiden vermag. Zahlreiche neurologische Experimente mit Probanden haben erwiesen, dass sich das menschliche Gedächtnis verändert wie die Menschen und die sozialen und kulturellen Felder, in denen sie sich bewegen, und dass es mit fiktiven Eingebungen problemlos zu überschreiben ist.2 Andererseits sind Menschen durchaus fähig, bestimmte Erfahrungen und Erlebnisse zu verdrängen, aus ihrem Gedächtnis zu verbannen, ohne im Alltagsleben entscheidend beeinträchtigt zu werden.3

Insofern siedelt das Projekt von Jahns, Gattinoni und den Schülern „Bilder gegen das Vergessen“ in äußerst schwierigem Gelände. Es unterstellt a priori, dass es Dinge auf den diversen Territorien des Daseins gibt, die vergessen werden (wollen), obwohl eine Notwendigkeit besteht, an sie unaufhörlich zu erinnern. Eine sozial, politisch und kulturell motivierte Notwendigkeit, etwa, um mit allen Mitteln zu verhindern, dass sie sich wiederholen. Diese Erinnerungen lösen keine nostalgischen Emotionen aus, sondern sind unangenehm. Sie quälen, werden von Scham oder gar Schuld begleitet, und gerne ausgeblendet oder überhaupt nicht zugelassen. Nicht nur in Deutschland, hier besonders, sind es die Erinnerungen an die „Shoah“ oder den „Holocaust“, den Völkermord an den Juden in den Vernichtungslagern; in Frankreich an die Beihilfe zum Genozid durch das Regime von Vichy unter der deutschen Besatzungsmacht. Bilder haben diese Verbrechen auch festgehalten; wenngleich nicht viele. Übermächtig sind die mündlichen Zeugenaussagen der überlebenden Opfer und einiger Täter, sind die sorgfältigen Beweisführungen der Prozesse in Deutschland und Frankreich gegen die Täter und ihre Auftraggeber, die quälenden literarischen und filmischen Dokumentationen, darunter eine von Alfred Hitchcock, sind Alain Resnais´ evokativer und schmerzlicher Film „Nacht und Nebel“, Claude Lanzmanns ungeheuerlicher Film „Shoah“ sowie die fiktiven Filme von Marvin Chomskys Fernsehserie „Holocaust“ über Joseph Loseys „Monsieur Klein“ bis zu Steven Spielbergs „Schindlers Liste“.

„Bilder gegen das Vergessen“ sind hauptsächlich die Bilder, die das Grauen optisch festgehalten haben. Es sind zwar mehr als gemeinhin bekannt, doch vom planmäßigen Massenmord in den Vernichtungslagern sind es lediglich vier aus Auschwitz-Birkenau, und auch die handeln nicht direkt vom Morden. Fotografiert wurden sie von eingeschleusten polnischen Widerstandskämpfern. Sie dokumentieren die Beseitigung der Leichen aus dem Gas. Ihre Authentizität ist, außer von notorischen Holocaust-Leugnern, nie bestritten worden, aber sie haben einen heftigen Grundsatzstreit zwischen dem Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman und Lanzmann hervorgerufen. Im Zentrum stand die Frage, ob sich das Grauen, das jedes menschliche Vorstellungsvermögen übersteigt, angemessen visuell vergegenwärtigen lässt.4 Oder entzieht es sich der optischen Darstellung, da diese das Unvorstellbare zwangsläufig auf eine verharmlosende Ebene herunterbricht, die es irgendwie begreifbar macht?5 Lanzmann seinerseits hat eine gegensätzliche Form des Erinnerns in seinem filmischen Meisterwerk „Shoah“ gefunden und kein Archivmaterial verwendet. Er hat Bilder gegen das Vergessen durch Bilder ausführlicher Interviews mit Überlebenden und Tätern aufgeboten, mit Tätern, unfreiwilligen Helfern und Widerständlern, Zeitzeugen und Wissenschaftlern. Nicht zuletzt durch Bilder der Orte, wo das Grauen Realität gewesen ist und die Erde getränkt hat.

Die meisten Bilder über die Auswirkungen der grenzenlosen Verbrechen stammen von den Fotografinnen und Fotografen auf den Spuren der sowjetischen, amerikanischen und britischen Befreier der Konzentrationslager. Sie künden durch die Blicke der Überlebenden von dem erlittenen Horror, durch ihre ausgemergelten Körper. Wer nicht völlig abgestumpft ist, den berührt es bis ins Innerste, wenn er oder sie die Bilder betrachten. Barthes „Punctum“ – „Es-ist-(wirklich – K.H.) so-gewesen.“ Viele von den endlich Befreiten werden noch – restlos entkräftet – nach der Befreiung sterben. Diese Bilder prägen das kollektive visuelle Gedächtnis vieler der späteren Generationen. Sie sehend zu sehen (Max Imdahl) statt mit dem unbewusst antrainierten flüchtigen Blick der Moderne inkorporiert sie dem Gehirn mit vergleichbarer Intensität, als wäre man ein leibhaftiger Zeuge der Befreiung der KZs gewesen.

Gattinoni und Jahns sahen sich der gleichen Herausforderung konfrontiert wie alle Filmemacher, Fotografen, Maler und Literaten, die dem Vergessen und Verdrängen des unvorstellbaren Grauens ex post Bilder entgegensetzen wollen. Auch deshalb ist die Beteiligung von französischen Schülern aus vier Gymnasial-Klassen (Lycées) der Region Centre-Val de Loire und einigen Schülern des Landes Sachsen-Anhalt an dem Projekt „Bilder gegen das Vergessen“ von unschätzbarem Wert. Denn es gilt ja nicht nur das, was der menschliche Verstand nicht zu fassen vermag, mit Hilfe von Bildern abermals ins Gedächtnis zu rufen und die Menschen in einer Zeit über 70 Jahre nach dem Massenmord anzuhalten, ihr Gedächtnis aufzufrischen und die Erinnerung an das unermessliche Leid fest zu verankern. Es gilt für die Schülerinnen und Schüler, sich erst einmal der grauenvollen Materie zu nähern, sich eine klare Haltung zu erarbeiten, die am Ende auch die politischen und sozialen Ursachen für den Genozid einschließt.

Zwei Gedenkstätten, die an den Orten der beiden früheren Lager von Pithiviers und Beaune-la-Rolande eingerichtet worden sind, liefern die Bezugspunkte und gleichzeitig die informative Folie für ihre „Bilder gegen das Vergessen“. Auch die Bilder von Gattinoni und Jahns orientieren sich daran. Von den beiden Lagern im Loiret, südlich von Paris, aus führte der Weg direkt oder über das berüchtigte Lager Drancy in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau; die Lager werden auch als „Vorhof von Auschwitz“ bezeichnet. Tausende von Juden wurden in den von französischen Gendarmen bewachten Camps zwischen 1941 bis 1942 interniert, darunter 1500 Kinder, ein Großteil der 13 000 Verhafteten vom 16. und 17. Juli in Paris, dem berüchtigten „Rafle du Vel d’Hiv“. Bevor die Transporte vom Bahnhof Pithiviers in Richtung Auschwitz-Birkenau anrollten, trennte man die Eltern von den Kindern. Nicht vor dem 13. August 1942 gab das Reichssicherheitshauptamt in Berlin grünes Licht für die Todesfahrt der Kinder. Und nicht ohne das strikte Verbot, reine Kindertransporte auf die Reise zu schicken. Der Grund ist einfach zu erklären. Die Züge mit den in Viehwaggons zusammengedrängten Menschen mussten in Frankreich und in Deutschland auf ihrer Fahrt ins Vernichtungslager aus verkehrstechnischen Gründen häufig geraume Zeit vor Bahnhöfen und auf Abstellgleisen warten. Der Krieg hatte logistischen Vorrang. An den Eisenbahnstrecken von West nach Ost waren diese Züge nichts Außergewöhnliches.6 Tausende sahen sie und hörten die Schreie der Eingepferchten. Hinterher haben sie nichts gesehen und gehört und von den Verbrechen nichts gewusst. Züge nur mit Kindern hätten vielleicht größeres Aufsehen erregt und Unwillen oder Proteste erzeugt.

Für eine Ausstellung des anschaulichen Resultats ihrer Beschäftigung mit den Deportationen jüdischer Menschen im „Cercil – Musée Memorial des enfants du Vel d’Hiv“ zu Orleans stützten sich die Schülerinnen und Schüler nach Besichtigung der ehemaligen Lager auf überkommene Dokumente, auf zeitgenössische Fotografien, Skizzen, Briefe und Zeichnungen. Sie verwendeten sie in eigenen Montagen und ordneten ihnen die Fotografien zu, die sie von den Denkmalen in den Gedenkstätten angefertigt hatten. Besonders eindringlich geriet eine transparente, hinterleuchtete und raumfüllende Rasterkonstruktion aus identischen Quadraten in großflächigen Segmenten. In diese passten sie die Bildnisse der Kinder ein, die sich erhalten haben. Von den übrigen künden allein die Namen und die leeren, weißen quadratischen und von Stegen begrenzten Lichtzonen. Die Installation ist ein Manifest gegen das Vergessen und visualisiert obendrein die Ohnmacht und das Scheitern aller Versuche, dem Grauen eine adäquate Gestalt zu verleihen. Die sprachlose Leere im schütteren Mosaik der Porträts über den Namen und der Altersangabe der verschleppten und mutmaßlich ermordeten Kinder ist eine angemessene Reaktion auf das Ungeheuerliche. Didi-Huberman und Lanzmann haben beide recht. Wiedergeben oder rekonstruieren lässt sich das Grauen nicht. Doch Bilder gegen das Vergessen sind Bilder – trotz allem; und Zeugnisse. Die bestürzenden Leerstellen laden die verbliebenen Kinderbilder mit der Ahnung dessen auf, was ihnen bevorstehen sollte. (Die deutschen Schüler beschäftigten sich mit einer Erinnerungsstätte an die DDR und die deutsche Teilung).

Das Nicht-Mehr-Sehen-Können sengt sich dem Vergessen nicht minder tief ein als ein unvergessliches Bild oder Erlebnis. Als empfindliche „Lücke“ entfacht es das Vorstellungsvermögen der Betrachter mit bohrender Kraft. Die großen Maler der Vergangenheit und die Filmemacher der Gegenwart wussten um die Wirkung des „Offs“. Sie verschatteten den Vorgang des Schreckens, sparten ihn sichtbar aus, porträtierten ihn in den Reaktionen der Zeugen, um das Vorstellungsvermögen zu stimulieren und das thematisierte Ereignis seiner Unfassbarkeit nicht zu berauben.

Entsprechend verfahren Gattinoni und Jahns mit ihren Bildern gegen das Vergessen. Indem sie den Bahnhof von Pithiviers und das Innen und Außen der Lager in fragmentarischer Form visualisieren. Sie fotografierten scheinbare Nebensächlichkeiten wie malerische Pfützen auf den Wegen oder gefrorenes Laub und kombinierten ihre Bilder mit zeitgenössischen fotografischen Dokumenten. Signifikant ist ihr Umgang mit dem Spannungsbogen von Erinnern und Vergessen auch dadurch, dass sie den unbefangenen Blick nachhaltig stören, sei es durch den abrupten Wechsel von nah und fern in einer Bildmontage, sei es durch eine Verriegelung durch Mauern oder Maschendraht. Sie bevorzugen eine elliptische Bildregie. So assoziiert der Bahnhof mit den Gleisen nach Osten und der blauen Rangierlock aus der Vogelperspektive im „inneren Auge“ der Betrachter die Erinnerung an die Transporte der Kinder und der Erwachsenen in den Tod. Wie ein zu niedrig fliegendes Flugzeug über der Stadt nicht nur in Manhattan ein Alarmgefühl schürt, beschwören Gleise und Rangierlocks bei manchen die Bilder von Krieg und Verbrechen herauf. Das fotografische Bild des Bahnhofs und der Gleise, die kraft des gewählten Ausschnitts am unteren Bildrand zu beginnen scheinen, markiert den Tatort, wo die Todeszüge zusammengestellt und die Menschen durch Gendarmen mit Befehlston hineingetrieben wurden. Es hat trotz seiner Indirektheit und scheinbaren Beliebigkeit vor dem Hintergrund von den vertrauten Bildern gegen das Vergessen eine stärkere Wirkung als die Dokumentaraufnahme aus dem Blickwinkel der Bewacher auf die passierenden Internierten vor dem Lagergebäude und hinter den Absperrungen. Es sind die visuellen Andeutungen, die eine stärkere Wucht entfalten als jede visuelle Simulation oder Rekonstruktion, weil die Möglichkeit des Vergessens simultan ein Teil der Bilder ist. Ein Exempel liefert die krass fragmentarische Darstellung der schier unüberschaubaren Gedenktafel mit den Namen der deportierten Kinder und ihrer Altersangabe, die in formatfüllender Gestalt, tendenziell endlos ist. Ein anderes der Ausriss aus den handgeschriebenen Listen von Namen und den mit blauen und roten Haken vor den Namen im Verbund mit dem Bild des Friedhofs. Das Ableben eines Opfers wurde korrekt abgehakt. Ordnung muss selbst im Grauen herrschen.

Das Projekt „Bilder gegen das Vergessen“ von Nancy Jahns und Christian Gattinoni und den französischen und deutschen Schülern ist beispielhaft für eine gelungene visuelle Intervention in die Mechanismen des Prozesses einer bewussten oder unbewussten Geschichtsvergessenheit. Nichtsdestoweniger fällt den Vergesslichen das ungeheuerliche Verbrechen ohnehin stets von Neuem und aus den verschiedensten Gründen auf die Füße. Darüber hinaus aber ist es auch eine nachdrückliche Demonstration der vielfältigen Möglichkeiten des Mediums Fotografie, des machtvollen Bildspeichers der Erinnerungen, dem Gedächtnis unter den unterschiedlichsten Bedingungen permanent frische Impulse zu geben.

Literaturhinweise

1) Eric Kandel. Das Zeitalter der Erkenntnis. Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute, München 2012, vor allem ab Seite 225
2) Julia Shaw. Das trügerische Gedächtnis. Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht, München 2016
3) Michael Specter. Partial Recall. Can neuroscience help us rewrite our most traumatic memories?, in: The New Yorker, NY, NYC, May 12, 2014
4) Georges Didi-Huberman. Bilder trotz allem, München 2007
5) Claude Lanzmann. Der patagonische Hase. Erinnerungen, Reinbek bei Hamburg, 2010
6) Gespräche des Autors mit Zeitzeugen, unveröffentlicht

© Klaus Honnef

Die Bilder und die Wirklichkeit (2014)

L Fritz. Internationale Photoszene Köln, 2014

Sie sehen wie Spitzbuben und Galgenvögel aus. Sie tragen die Gesichter von tagesscheuem Gesindel. Die verschlagenen Blicke empfehlen näher Tretenden Vorsicht. Figuren wie sie bevölkern die sozialkritischen Romane von Charles Dickens und Émile Zola. Ihre Kleidung ist gleichwohl erlesen. Beste Stoffe. Seide und Satin. Prachtvolle Orden aus Gold und Edelstein schmücken sie. Doch nicht die Führungskräfte einer Familie aus dem kriminellen Milieu haben sich vor der Staffelei des Malers Francisco Goya eingefunden, sondern die königliche Familie Spaniens.

Der erste Eindruck täuscht nicht einmal. Nach allem, was wir wissen, nehmen sich die finsteren Typen aus den Seifenoper-Serien des US-Fernsehens wie „Dallas“ oder „Dynasty“ gemessen am spanischen König Ferdinand VII. und seinem Bourbonenhof wie Chorknaben aus. Offenbar besaß Goya die Gabe des genauen Blicks. Fähig, den pompösen Glanz des höfischen Zeremoniells zu durchschauen und den falschen Schein zu durchdringen. So mag es gewesen sein. Goyas scharfer „Realismus“ ist deshalb in der Literatur zu Recht oft hervorgehoben und gefeiert worden.

Ob die optische Wiedergabe der Königsfamilie aber derart krass und entlarvend gemeint war, wie es uns im jetzigen Anblick erscheint, möchte ich mit einem dicken Fragezeichen versehen. Denn es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass die hohen Herrschaften nichts dagegen gehabt haben, wie Schurken und „Scheiße in Seidenstrümpfen“ – ein geflügeltes Wort des Bischofs von Autun und langjährigen französischen Außenministers Talleyrand –, dargestellt zu werden. Mit blanker Blindheit waren die spanischen Aristokraten nicht geschlagen, und die außerordentliche Kunstfertigkeit des Malers wäre kein Bonus gewesen, um ihm den Kopf zu retten. Vielmehr hätten sie, vermute ich, ihren geschätzten Hofmaler ohne Umschweife der Garotte überantwortet, wäre ihnen eine solche Absicht ins Auge gesprungen. Für die Vermutung, dass sie mit ihren Bildern aus der Hand Goyas zufrieden waren, gar, dass sich ihr Selbstbild von diesen kaum unterschied, spricht einiges, zumal die Porträts der Herrscherfamilie repräsentativen Charakter hatten. Nicht zuletzt fiel ihnen die Aufgabe zu, sich und ihresgleichen zu beeindrucken.

Ohne allzu tief in die historischen Verhältnisse der spanischen Monarchie am Anfang des 19. Jahrhunderts einzutauchen – das Beispiel zeigt, dass wir die Bilder früherer Epochen, auch wenn sie in einem uns weitgehend vertrauten Bildschema auftreten, mit anderen Augen betrachten als ihre Zeitgenossen. Ich meine es weniger im selbstverständlichen, im physiologischen Sinne, sondern in dem Sinne, dass unsere Wahrnehmung völlig anders trainiert ist als die Wahrnehmung derer, an die sich die Bilder damals richteten. Dass in anderen Worten nicht nur die Modi der Darstellung einem historischen Wandel unterliegen, sondern in gleichem Maße die Modi der visuellen Erfahrung. Was überspitzt ausgedrückt heißt, dass wir nicht sehen, was wir sehen, sondern was wir wissen.

Seit mindestens sechs Generationen entwerfen die Bilder des Mediums Fotografie – anlog und digital – unser Bild der sichtbaren Erfahrungswelt. Sie prägen deren Anschauung ebenso wie unser Verhältnis zu ihr und nicht weniger das Verhältnis zu uns selbst. Mit welchen Konsequenzen ist zwar Gegenstand unzähliger Abhandlungen, verliert sich aber im Reich der wissenschaftlichen Spekulation. Dabei dürfen wir die übrigen Modelle, der Erfahrungswelt und dem eigenen Ich zu begegnen, wie sie die Wissenschaften der Psychologie und Geschichte entworfen haben, nicht ausblenden. Beide im Übrigen Kinder des 19. Jahrhunderts wie die Fotografie. Eine psychologisch motivierte Interpretation seiner Porträts wäre Ferdinand und Konsorten denn auch ebenso völlig unverständlich gewesen wie eine kriminalistisch eingefärbte Sicht.

„Photography Changes Everything“ stellt der amerikanische Kurator und Kritiker Marvin Heiferman im jüngsten, von ihm initiierten und herausgegebenen Buch lakonisch fest, und Forscher der meisten einflussreichen wissenschaftlichen Disziplinen der Gegenwart, von der Biologie bis zur Medizin, von der Astronomie bis zur Physik, von den Kommunikations- bis zu den Kunstwissenschaften bekräftigen seine These in knappen und präzisen Essays. Das Erstaunen darüber, wie sehr sich unsere Beziehungen zu den Phänomenen, die wir als Realität begreifen, im Vergleich zum Wirklichkeitsverständnis unserer Vorfahren umgewälzt haben, wächst bei der Lektüre des Buches von Seite zu Seite. Kaum ein Gebiet blieb unberührt. Vieles ist inzwischen so selbstverständlich, dass es einer gründlicheren Ausleuchtung bisher nicht für wert erachtet wurde.

Würden wir etwa aus gemalten und gezeichneten Bildern den Schluss ziehen, es sei „so gewesen“, wie diese Bilder es zeigen? Eine Fotografie erscheint uns erheblich „wirklichkeitsgetreuer“, „wahrer“, authentischer als ein Gemälde oder eine Zeichnung vom selben Motiv. Doch mit welchem Recht? Dabei vergegenwärtigt eine gezeichnete Version des betreffenden Motivs die entscheidenden Details bisweilen akkurater als eine Fotografie, und die Archäologen halten ihre Fundsachen unvermindert in beiden Bildformen fest. Ist die Fotografie deshalb „wirklichkeitsgetreuer“, weil das Motiv sich mithilfe des Lichts ins Bild förmlich eingebrannt hat und es dadurch „objektiviert“ hat? Weil eine Maschine statt eines künstlerischen Auges und Hand den Abbildprozess vollzogen hat? Warum empfinden wir andererseits Goyas Porträts der spanischen Herrscherfamilie als „realistischer“ denn die Herrschaftsbilder von Velázquez und Tizian? Womöglich, weil es uns zur Gewohnheit geworden ist, gemalte und gezeichnete Bilder in der Optik der fotografischen Linse anzusehen? Geeicht auf detailgesättigte Darstellung? Oder, weil das Medium Fotografie schon früh in der theoretischen Literatur mit dem Tod assoziiert wurde? Immerhin behauptete der „göttliche Aretin“, Tizians Bildnisse verliehen den Porträtierten ein ewiges Leben.

Warum billigen wir ferner den Bildern der „Schwarz-Weiß-Fotografie“ einen höheren Grad an Realismus zu als der tatsächlich „realistischeren“ Farbfotografie? Nur eine Frage des Alters der Betrachter? Wenn es ernst wird, bevorzugen massenhaft verbreitete Bilderblätter (und das Fernsehen) immer noch häufig das herbe Schwarz-Weiß. Dagegen gehört zu den artifiziellsten Gattungen des Kinos der (schwarz-weiße) „Film noir“ mit seinen nächtlichen Kulissen und den Lichtreflexen auf dem regennassen Straßenpflaster. Nichts desto trotz hat die Kritik stets seinen ungeschminkten Realismus gepriesen.

Die fotografischen Bilder haben sich tief ins komplexe Gefüge unserer Erinnerungen eingenistet. Womöglich verschwinden sie allmählich wieder, seit die Smartphone-Fotografie sie verflüssigt und flüchtig gemacht hat und einen völlig neuen Umgang mit dem Medium eröffnete. Angesichts der bezwingenden Bilder Walker Evans‘ vom Amerika der schweren Depression im Kielwasser der Weltwirtschaftskrise stellte sich der große Kurator John Szarkowski unwillkürlich die Frage, ob sich seine Erinnerungsbilder dieser Zeit dem eigenen Erleben oder den Fotografien von Evans verdanken? Geht über die Jahre der Depression in den USA die Rede, steigen unweigerlich seine und die Bilder der übrigen Fotografinnen und Fotografen im Auftrag der legendären Farm-Security-Administration vor unserem geistigen (!) Auge auf. Auch meine Erinnerungsbilder des Zweiten Weltkriegs und die ersten Nachkriegsjahre sind schwarz-weiß gefärbt.

Nicht allein die Bilder unseres Gedächtnisses werden in einer Weise von Bildern fotografischen Ursprung kolonisiert, dass eine Differenzierung zwischen unmittelbarer und mittelbarer optischer Erfahrung schier unmöglich geworden ist. Erschwert natürlich durch den Umstand, dass wir praktisch blind den Mutterleib verlassen und das Sehen von Grund auf lernen müssen.

Folgenreicher noch als die Besetzung unserer Erinnerung ist allerdings, welchen Einfluss die fotografischen Bilder auf unsere akute Wahrnehmung ausüben. Inwieweit greifen sie über diese Vermittlung in unsere Entscheidungen und Handlungen direkt ein? Ein bezeichnendes Beispiel liefern die People-Magazine mit den leeren Fotoshop-Gesichtern von der Stange. Dr. Frankenstein was here. Erschreckender als diese Einheitsgesichter ist, dass sie einen bizarren Trend befördert haben, der schon Teenager zum Glättungstechniker treibt. Knapp 230 Jahre später und auf eine solche Sicht der Dinge abgerichtet, hätte die spanische Herrscherfamilie ihren Hofmaler sofort dem Scharfrichter überantwortet.

Was haben die fotografischen Bilder mit uns angestellt? Was stellen sie mit uns an? Dass sie unser Gesichtsfeld, das Terrain des Sichtbaren enorm erweitert haben, leidet keinen Zweifel. Sowohl der Makro- als auch der Mikrokosmos ist kein Buch mehr mit sieben Siegeln – viele der Siegel, natürlich nicht alle, hat die Fotografie gebrochen. Zahlreiche medizinische Operationen gelingen nach Bildern besser als nach unmittelbarem Augenschein. Wir sind mit Neil Armstrong auf dem Mond herumgestapft und haben die Oberfläche des geheimnisvollen Planeten Mars überflogen. Zunächst aber haben uns die fotografischen Bilder „unsere eigene“ Welt vor Augen geführt, bevor wir sie physisch, wenn auch bloß vorübergehend in Besitz nehmen konnten. Paris, Venedig, London und New York, San Francisco und Shanghai – ihr fotografisches Bild hat unsere Sicht geformt, ehe wir sie sahen.

Das Gesicht Ferdinands VII. war nur dem inneren Zirkel des Hofs und den Höfen der Fürstentümer bekannt, mit denen Spanien Kontakte hatte. Die meisten Herrschaftsrepräsentanten unserer Zeit sind Hausgenossen und vertrauter als das Gros der Verwandten.

Auch das Medium Fotografie und die moderne Demokratie sind gemeinsam herangewachsen. Dabei hat die Fotografie immer nachhaltiger in unser Verhältnis zur Politik eingegriffen, und die Politik allmählich auf die Ebene des Show-Business verschoben. Den Reichspräsidenten Ebert brachte die „Berliner Illustrirte“ noch unbeabsichtigt um seinen soliden Ruf, als sie ihn auf einem Cover in Badehose abbildete. Der russische Präsident Putin zieht aus ähnlichen Fotografien seine Popularität wie Dekaden vorher ein junger US-Präsident. Und bei jedem Wahlkampf grinsen uns die alterslosen Retortengesichter derer an, die um unsere Wählergunst werben. Der fotografische Glamour hat sich ihrer Gesichter bemächtigt; erster Schritt auf dem Weg zum Verlust der Glaubwürdigkeit.

Nachdem wir alles wissen über die Intentionen der Fotografinnen und Fotografen, manches über die Intention der Bilder, was auch nicht identisch ist, etliches über die Intention des Mediums, ist es langsam an der Zeit, dass wir, an die sich sämtliche der genannten Kräfte adressieren, auf die Bühne der Reflexion gelangen. Was tun die fotografischen Bilder eigentlich mit uns, wenn wir die sichtbare Welt durch das Fenster der Fotografie sehen?

© Klaus Honnef

Die Bilder sind flach, und die Welt ist eine Scheibe (2012)

PHOTONEWS: Zeitung für Fotografie, Nr. 3/12, S. 3

„... wenn ich mir angucke, was wir so machen, dann fehlt es da einfach ein bisschen an Radikalität und Originalität, vielleicht auch an Größenwahnsinn“, sagte der deutsche Filmemacher Matthias Glasner in einem Gespräch mit der FAZ. Das Gespräch fand im Vorfeld der Berlinale 2012 mit Glasner und seinen Kollegen Christian Petzold und Hans-Christian Schmid statt und wurde am 9. Februar veröffentlicht. Alle drei Regisseure waren im Wettbewerb des Filmfestivals vertreten. Außer der selbstkritischen Einsicht von Glasner ist eine Forderung von Petzold bemerkenswert, zumal sie sich ohne weiteres auf die fotografische Szene in Deutschland über zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung projizieren lässt: „Ich verlange vom Filmemacher in Deutschland, dass man Filme macht, die etwas gesehen haben...“ Das bundespräsidiale „man“ einmal ausgeblendet, wodurch sich die subjektive Verantwortung ins Nebulöse verflüchtigt, trifft Petzolds Forderung den Kern der Sache: Entscheidend sind Bilder, „die etwas gesehen haben“. Dabei widerspricht sie der Feststellung Glasners, der zufolge es den Bildern oft an Radikalität, Originalität und Größenwahn mangelt, nicht.

Wer sich in den letzten Jahren intensiver mit den Zeugnissen der zeitgenössischen Fotografie in praktischer Anschauung beschäftigt hat, wundert sich zunehmend darüber, was die Fotografinnen und Fotografen, die ihre Bilder in privaten Galerien, öffentlichen Kunstinstitutionen und an alternativen Orten zeigen oder in Life-Style-Magazinen und den seltenen Illustrierten publizieren, alles nicht gesehen haben. Darum ist in ihren Bildern auch nichts zu sehen. Zwar steigt die Anzahl der ausgestellten Fotografien stetig an, die Anzahl der Bilder unter den Fotografien scheint im umgekehrten Verhältnis aber beständig abzunehmen. Stattdessen häufen sich die Klischees, die Bildmuster, die sich als erfolgreich erwiesen haben und entsprechend geläufig sind. Davon ausgenommen ist keine fotografische Sparte, nicht die journalistische noch die dokumentarische noch die künstlerische – um, auch wenn es unsinnig ist, an den gängigen Zuordnungen festzuhalten. Die Grenzen haben sich ohnehin längst vermischt. Ein eklatanter Mangel an Neugierde ist den meisten Bildern gemeinsam, an ästhetischer Risikobereitschaft. Erst vor kurzem promovierte World Press Photo eines der vernutztesten Motive „klassischer“ Malerei und Plastik zum Pressefoto des Jahres 2012: Eine Pietà aus dem Jemen. Eine Aufnahme, die zeigt, wie eine tief verschleierte Frau einen toten Mann in den Armen hält. Seinen aufrüttelnden Impuls bezieht das Bild allein aus dem Code des zitierten Vorbildes, sichtbar in der Pyramidenform der Pietà-Darstellung. Er bezeichnet ein Mutter-Sohn-Verhältnis. Das einzig irritierende Moment des Bildes sind die weißen Handschuhe der Frau.

Klischees verbergen die Bilder und verhüllen außerbildnerische Interessen. Klischees sind Bilder, die nichts gesehen haben, außer einem erfolgreichen Musterbild. Die jedoch etwas verkaufen wollen: Waren, Ideologien, Moden. Die Ursachen des verbreiteten Hangs zum Klischee in der Fotografie sind vielfältig und liegen nicht ausschließlich in der Phantasie- und Mutlosigkeit der Autoren.

Ein Grund ist in der Logik der Technik zu suchen, deren immanentes Gesetz auf Perfektion lautet. Perfektion ist eine zweischneidige Angelegenheit. Die Masse der fotografischen Bilder, die der Amateure ein¬geschlossen, liefert die Probe aufs Exempel. Je perfekter die Maschinen, die Bilder herstellen, desto steriler ihre Produkte. Im Vergleich zu den glatten Familien- oder Touristenfotos von heute wirken die ungelenken, verwackelten Aufnahmen früherer Zeiten vital und persönlich. Vermutlich ist ein geringer Anteil Fehlerhaftigkeit notwendig für ein außergewöhnliches Bild. Trotz allen Strebens der Urheber nach Vollkommenheit: ein Gran Unvollkommenheit. Deshalb beruht die gelegentlich aufflammende Diskussion, ob die großen Künstler der Vergangenheit die Camera obscura zur Handhabung der Perspektive benutzt haben, auf falschen Voraussetzungen.

Die vollendete Beherrschung der Perspektive war nämlich selbstverständlicher Teil ihres technischen Rüstzeugs. Aber sie war Handwerk. Angewandt nach den Opportunitäten der jeweiligen Gestaltung und ihnen angepasst. Die Perspektive musste durch mühevolle Übung erlernt werden. Das Medium Fotografie hat hingegen alle Menschen ohne Ausnahmen zu potentiellen Bildautoren gemacht, sie sämtlicher Mühen enthoben und das Privileg der professionellen Bildschöpfer gebrochen. Darin liegt ihre einschneidende soziokulturelle Bedeutung. Um den Preis allerdings, dass die Bilder eine Tendenz zum Uniformen entfalten und die Fotografen sich in menschliche Attribute der Maschinen verwandeln, die ihre Mechanismen nicht mehr durchschauen. Die perfekte Maschine ersetzt das Sehen und bietet sogar an, durch welchen Kunstfilter, vom Impressionismus bis zum Realismus, ein Bild gesehen werden kann. Nicht von ungefähr rief Vilém Flusser in seiner „Philosophie der Photografie“ die Künstler nachdrücklich dazu auf, Bilder gegen die Maschinen zu realisieren. Und endlich wieder sehen zu lernen, wäre hinzufügen.

Ein außertechnischer Grund für die ästhetische Entleerung der Bilder besteht in der Phantasie- und Mutlosigkeit derer, die eine Schlüsselstellung in den verschiedenen Vermittlungssystemen von Bildern haben, den Redakteuren, Art-Direktoren, Produzenten, Jurys, Kuratoren und Kunsthändlern. Sie verstärken die Neigung der Bildautoren zu erprobten Lösungen visueller Herausforderungen und fördern die Scheu vor ästhetischem Risiko. Erweist sich ein bestimmtes Muster, sei es visuell, narrativ oder diskursiv, als erfolgreich, wird es immer wieder nachgeahmt und so oft in leichten Variationen reproduziert, bis es förmlich unsichtbar wird und allenfalls noch ein lahmes „Déjà-vu“ oder „Aha“ provoziert. Gleichwohl – oder womöglich auch deshalb – scheint das Klischee bei der Mehrzahl seiner Adressaten einen pavlovschen Reflex auszulösen, seiner Botschaft in irgendeiner Form (Kaufappell) nachzugeben.

Jedenfalls verheißt das Klischee die Sicherheit, auf Anhieb wieder erkannt zu werden. Sicherheit ist ein Passepartoutwort der Postmoderne; Sicherheit wollen selbst die Urlauber, die Abenteuer buchen. Vor der Folie fortschreitender Kommerzialisierung, der Raison d´être der modernen Konsumgesellschaft, ist das Klischee ein „sicheres“ Markenzeichen. Ein Markenzeichen signalisiert einen bekannten Namen, der Sozialprestige verspricht; die Zugehörigkeit zu einer sozialen Grup¬pe, der „man“ angehören möchte. Konformismus ist die Kehrseite kommerzieller Praxis.

„Entlebung“ hat Konstantin Wecker die Konsequenzen der wachsenden Gentrifizierung in angesagten Innenstadt-Quartieren beliebter deutscher Großstädte wie München, Hamburg und Berlin genannt. Besonders „entlebt“ wirken auf mich die meisten der fotografischen Bilder, die unter der Flagge der „Kunstfotografie“ segeln. Wohlgemerkt: „Lebendigkeit“ war einst eine markante Kategorie der Kunstkritik. Die Gentrifizierung korrespondiert mit der Sterilität der Kunstfotografie. Wahrscheinlich stecken äquivalente soziokulturelle Antriebskräfte dahinter. Vor einigen Jahrzehnten, als die Fotografie nach Anathema in deutschen Kunstmuseen war, galt „Kunstfotografie“ als verpönter Begriff. Hilla und Bernd Becher hätten sich nie als solche apostrophiert. Inzwischen ist der Streit um die künstlerische Legitimität des technischen Mediums ausgestanden. Nicht unbedingt zum Vorteil der Fotografie. Während sich der fotografische Journalismus, der in den vergangenen Jahren weitgehend seine materielle Basis verloren hat, sozusagen „neu erfand“ und nicht selten Bilder erzeugt, die im Petzoldschen Sinne „gesehen haben“ und einen überraschenden Zugang zur Welt eröffnen, hat der Erfolg im Kampf um künstlerische Anerkennung die ästhetisch ambitionierte Fotografie korrumpiert.

Ich habe die fotografischen Impressionen banalster Alltagsdinge schon lange über. Ebenso wie die visuellen Umsetzungen melancholischer Befindlichkeiten des fotografierenden Ich, mit ausgedehnter Introspektion, vorzüglich von jüngeren Vertretern, deren Erfahrungsraum notwendigerweise eng begrenzt ist. Am schlimmsten indes ist die Attitüde eines emphatisch zur Schau getragenen Kunst-Wollens. Äußerlich manifest durch übergroße Formate in Diasec oder Alubond; durch endlose Wiederholungen des Immergleichen à la Sanderbecherevans, ohne zwingende optische Begründung; durch formale Selbstreferenzen mit der Behauptung des „Konzeptuellen“ oder „Konzeptionellen“. Tatsächlich Zeugnisse von dürftigem ästhetischen Ertrag und im besten Fall Pastiches. Eine Idee, die Klischees zu transzendieren, enthalten sie nicht.

Dennoch wäre es falsch, den Eindruck zu erwecken, als gäbe es die originellen, radikalen, die größenwahnsinnigen Bilder nicht. Als seien bloß ihre Urheber größenwahnsinnig, die Megastars der Szene, und als würden die „Mittelmaßmeister“ (FAZ) die Leitmelodie der „Fotokunst“ pfeifen. Es gibt sie, aber sie fallen durch das Raster von Klischee gesättigten Erwartungshaltungen. Ein paar willkürliche Beispiele aus deutschsprachigen Ländern zum Trost am Ende: das größenwahnsinnige Lebensprojekt „Time Scape“ von Michael Ruetz, die intelligente Erweiterung des Porträtgenres von Carina Linge, die langjährige Exploration des Ichs als erschreckend multiples Wesen von Irene Andessner, die beziehungsreiche „Aktualisierung“ des Gesellschafts-Atlas von August Sander durch Albrecht Tübke.... Bilder, die gleichzeitig in Vergangenheit und Gegenwart operieren – radikale Zeit-Bilder. Auch diese Bilder sind flach, doch ihre Welt ist keine Scheibe.

© Klaus Honnef

Lob der Provinz. Die Kunst im Rheinland seit den sechziger Jahren (2010)

Klaus Honnef – Vortrag: LVR LandesMuseum Bonn, 21.10.2010
Symposium: Avantgarden im Rheinland. Bonn, 21.-23.10.2010

Als anno 1974 im Kunstbetrieb ruchbar wurde, dass ich nach Bonn gehen würde, schlug mir allgemeines Bedauern entgegen. Bonn sei zwar Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland, wenn auch nur eine „provisorische“, aber tiefste Provinz, hieß es. Hatte hier nicht kurz zuvor ein Schwachkopf mit einem Schrotgewehr auf eine Stahlskulptur von Erich Hauser geschossen, weil er sich über ihre Aufstellung empörte? Die Politik schien die Sache auch nicht in günstigeres Licht zu tauchen. Zumal sie vornehme Distanz namentlich zur avancierten Kunst hielt, die man damals im Wahrnehmungsfenster der Avantgarde und des politischen Protestes betrachtete. Noch rissen sich Politiker aller Couleur und Funktion nicht darum, in Ausstellungen zeitgenössischer Kunst als Eröffnungsredner aufzutreten und mit fremd verfertigten Reden zu prunken. Dabei kam ich aus Münster und war zuvor in Aachen tätig gewesen. Eigentlich keine ausgesprochenen Kunstmetropolen, sollte man meinen.
In Wirklichkeit verhielt es sich anders.

Auch Bonn war erheblich besser als sein Ruf. Denn das Fundament für das Phänomen einer deutschen Kunst, die sich zwanzig Jahre später internationaler Anerkennung erfreuen sollte und inzwischen als Markenzeichen im kommerziellen Kunstbetrieb gehandelt wird, schuf die so genannte Provinz. Als Pfeiler fungierten ein paar private Galerien, Kunstvereine und Museen in Krefeld, Wuppertal, Mönchengladbach, Aachen, Bonn, Leverkusen, Essen und Münster. Düsseldorf galt zwar mit der Akademie, einer Werkstatt des Neuen und Ungewöhnlichen, der vor kurzem eröffneten Kunsthalle, dem Kunstverein und seinen privaten Galerien als eine Art Zentrum der noch schütteren Kunstszene. Doch den Blick für die elementaren Veränderungen, die sich innerhalb der Kunst vollzogen und zugleich das Ende der Avantgarde signalisierten, für die Vehemenz eines künstlerischen Aufbruchs, hatten lediglich ein paar risikofreudige Kunsthändler, deren Künstler Kunstvereine und Museen in der Provinz die öffentliche Anerkennung verschafften. Kunsthalle und Kunstverein in Düsseldorf beschränkten sich auf eine abwartende Position. Nicht, dass sie quer lagen wie die Museen in Köln oder München, Frankfurt oder Hamburg, von Berlin West wie Ost ganz zu schweigen. Gleichwohl galt die Neigung ihrer Direktoren hauptsächlich den Künstlern und wenigen Künstlerinnen der „kanonischen Avantgarde“ sowie ihren Nachfolgern in der zwischen Kontinuität und Neubeginn schwankenden Nachkriegszeit. Das war nicht ohne Mut. Denn noch immer hatte das Stigma „entartete Kunst“ im bürgerlichen Kunstpublikum einen guten Klang, wenn missliebige Kunstereignisse apostrophiert wurden. Das Wort von „Ratten“ und „Schmeißfliegen“ für Intellektuelle und Künstler, das Spitzenpolitiker in Umlauf brachten, haftete frisch im Gedächtnis der Betroffenen.

Dennoch erhielten die vorwiegend jungen und selbst nach Maßgabe der Kunst der Avantgarde unkonventionellen Künstler in den Kunstvereinen und Museen anderer Städte eher ihre ersten repräsentativen Einzelausstellungen als am Ort der Staatlichen Kunstakademie. Um nur einige wenige Beispiele zu nennen: Yves Klein und Jan Dibbets in Krefeld, Joseph Beuys, Carl Andre und Hanne Darboven in Mönchengladbach, Gerhard Richter und Lawrence Weiner in Aachen. Dort hatte sich im Übrigen schon Mitte der sechziger Jahre in einem Hinterhof ein Ort für die ephemeren Künste wie Happening und Performance etabliert. Wuppertal war die Quelle für Fluxus. In Münster erprobte Sigmar Polke erstmals seine Kunst in der musealen Sphäre eines Kunstvereins, gemeinsam mit Achim Duchow; ebenso wie vor ihm Reiner Ruthenbeck und nach ihm Jörg Immendorff und Christian Boltanski. Rosemarie Trockel startete wie Isa Genzken in Bonn ihre Weltkarriere. Und in Bonn wurde mit der Ausstellung „In Deutschland“ laut Peter Galassi vom New Yorker Museum of Modern Art auch der Siegeszug der Fotografie in der zeitgenössischen Kunst eingeläutet. In dieser Ausstellung hatte die später nachgerade berühmte „Becher-Schule“ ihren ersten Auftritt. Die knappe Auswahl ist nicht annähernd vollständig.

Bereits in den als muffig verschrienen fünfziger Jahren kam es in der Kunsthalle Recklinghausen anlässlich der Ruhrfestspiele zur brisanten Begegnung von Kühlschrank und moderner Skulptur, und das Museum in Leverkusen entwickelte sich zu einem Dorado für provokante thematische Ausstellungen, nachdem es anfangs der siebziger Jahre auf Initiative eines Düsseldorfer Kunsthändlers erstmals auf der Welt das Phänomen der konzeptuellen Kunst unter dem Titel „Conception – Konzeption“ (1969) umfassend beleuchtet hatte. Es waren die Museen in Krefeld und Essen, die jene seinerzeit alle gängigen Vorstellungen von Kunst umwälzenden Ausstellungen zeigten: nämlich Harald Szeemanns „When Attitudes become Form“ und Wim Beerens „Op losse schroeven“ (1969). Um mit einem letzten signifikanten Detail dieses kursorischen Ausflugs in die Provinz des Westens Deutschlands zu enden: Im beschaulichen Monschau fand vor vierzig Jahren die erste große Außenkunst-Ausstellung mit der Teilnahme von Dibbets und Weiner, Klaus Rinke und Günter Uecker, Daniel Buren und Michael Buthe oder Timm Ullrichs und vielen anderen unter dem Motto „Umwelt-Akzente“ statt und versetzte Stadt und Bevölkerung in Aufruhr. Was die Verantwortlichen nicht daran hinderte, im Jahr darauf Christo und Jeanne-Claude einzuladen, die Monschauer Burg zu verhüllen. Insofern muss ich Jürgen Hartens instruktiven Bericht im Katalogbuch „Der Westen leuchtet“ zumindest für die Jahre des Umbruchs von 1965 bis 1980 ergänzen und auch die Pointen manchmal anders setzen.

Zunächst gilt es jedoch, sich einer naheliegenden Frage zu stellen. Wo liegen die Gründe für die erstaunliche Aufgeschlossenheit der Menschen in den kleineren Städten nicht nur Nordrhein-Westfalens gerade während dieser dramatischen Jahre? Niemand hat die Frage meines Wissens bisher systematisch und mit der notwendigen Gründlichkeit untersucht, und selbst fundierte Darstellungen einzelner Aspekte sind selten. Vielleicht verbirgt sich dahinter auch ein symptomatischer Zug nach der Devise: Provinz ist Provinz. Offenbar spiegelt sich der metropolenfixierte Blick angesichts der Entwicklung der Welt zum „globalen Dorf“ im eurozentrischen Blick der westlichen Kultur. Ist letzterer indes im Zuge der Kommerzialisierung der Kunst gegenstandlos geworden, erfreut sich die abschätzige Sicht auf die Provinz unverminderter Beliebtheit. Doch das wissenschaftliche Desiderat hat noch weitere Ursachen.

Es war nur eine überschaubare Minderheit von Händlern, Kunstvereins- und Museumsdirektoren, Kritikern und Kunstinteressierten, die sich in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts für die herausfordernden Erscheinungen einer avancierten Kunst engagierten. Als „avanciert“ bezeichne ich im Sinne Theodor W. Adornos allein solche künstlerischen Bestrebungen, die sich allen einigermaßen fixierten Vorstellungen von Kunst verweigerten, auch denen der kanonischen Avantgarde. Entsprechend spärlich war der Zuspruch. Ich kann mich der Welt-Premiere der Ausstellung „This Way Brouwn“ von Stanley Brouwn im alten Mönchengladbacher Museum an der Bismarckstraße entsinnen, zu der sechs oder acht Personen erschienen waren, Museumsdirektor inklusive. Seine Frau hatte die Aufgabe der Restauration übernommen und bot von einem Gläserkranz den Anwesenden Altbier an. Neben dem Künstler und seiner Frau waren sein Kunsthändler samt Frau erschienen, wahrscheinlich auch ein Sammlerpaar aus dem benachbarten Krefeld, und ein Kunstkritiker mit Freundin, einer Künstlerin. Kein Sonderfall, sondern die Regel. Die rund 5000 Quadratmeter umfassende Ausstellung von Hanne Darboven 1971 in Münster hatte ausweislich der Zählung knapp tausend Besucher. Die studentischen Besucher der Cafeteria eingerechnet. Inzwischen kenne ich die doppelte Anzahl persönlich.

Unbeschadet ihrer durchaus unterschiedlichen Interessen und Perspektiven, verband den Kreis von Aficionados im Westen Deutschlands ein Bündel gemeinsamer Erfahrungen. Viele rührten aus der gemeinsamen Generationszugehörigkeit. Ein paar Jahre zu alt, um zu den berühmt gewordenen 68ern zu gehören, waren sie gleichzeitig ein paar Jahre zu jung, um – von ein paar Ausnahmen abgesehen – zur Generation der Flakhelfer zu zählen. Sie hatten Krieg- und Nachkriegszeit in den prägenden Jahren ihres Heranwachsens erlebt, und etlichen war das Erscheinungsbild des nationalsozialistischen Regimes noch in markanter Erinnerung. Viele waren mit ihrer Familie oder dem Rest, den Regime und Krieg übrig gelassen hatten, aus dem Osten vor der sowjetischen Armee gen Westen geflohen, aus Schlesien, Pommern und Ostpreußen. Etliche mit Zwischenstopp in, weitere direkt aus der „Sowjetisch besetzten Zone“, wie man den zweiten deutschen Staat bis in die siebziger Jahre offiziell und in Teilen der Presse nannte. Bei ihrer Ankunft im Westen wurden wir nicht mit offenen Armen empfangen.

Das politische, soziale und kulturelle Klima der fünfziger Jahre in der noch jungen Bundesrepublik Deutschland empfanden die meisten von ihnen als bedrückend. Sie litten an der verbreiteten Doppelmoral, der militanten Prüderie und den häufig stumpfsinnigen Methoden der Ausbildung mit einer Neigung zum Drill. Ungebärdiger Aufstiegeswille befeuerte sie. Die bestehenden Verhältnisse zu verändern, trieb sie an. Revolution war nicht ihr Ziel. Politisch abstinent waren sie aber nicht, im Gegenteil. Sie hielten jedoch Abstand zu den politischen Parteien und Ideologien. Dafür erfüllte sie ein zu starkes Verlangen nach individueller Freiheit. Das weithin negative Image der fünfziger Jahre, das in jüngster Zeit zu Recht wegen seiner Einseitigkeit korrigiert wurde, verdankt sich im Wesentlichen ihren Schilderungen.

Sehnsuchtsvolle Blicke richteten sich zunächst auf die französische Kultur und auf Paris als Geburtsstätte der modernen Kunst, auf die Philosophie der Existentialisten und die Jazz-Keller mit den amerikanischen und französischen Musikern, die inzwischen zu Legenden geworden sind. Doch die spezifisch amerikanische Kultur mit ihrer souveränen Ignoranz gegenüber dem bürgerlichen Alleinvertretungsanspruchs auf kulturelle Legitimität übte im Laufe der Zeit eine immer machtvollere Anziehungskraft aus. Im Jazz, Rock´n Roll, der amerikanische Literatur, dem Genrekino Hollywoods und den kühnen Rhythmen des Abstrakten Expressionismus fanden unsere kulturellen Bedürfnisse einen sinnfälligeren Ausdruck als in den Vorführungen des traditionellen Theaters, den sterilen Konzerten mit einem andächtig auf unbequemen Stühlen angeschweißtem Publikum und den verstaubten Dauerausstellungen der Museen auf stoffverhängten braunen Wänden. Besonders die kleinbürgerliche Attitude der offiziellen Kultur rief wachsenden Widerspruch hervor, und die vorherrschende künstlerische Doktrin mit ihrem sentimentalistischen Qualitätsbegriff waren Gegenstand vielfältiger Attacken. Hatte sie nicht die Verbrechen der Nazi-Zeit bemäntelt?

Tatsächlich manifestierten sich die Proteste gegen die verkrusteten Strukturen der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft in der kulturellen Sphäre lange, bevor sie auf die politische übergriffen. Namentlich die Begeisterung für populäre Musik, das Genrekino und die Kriminalromanen Raymond Chandlers, Dashiell Hammetts und Ross MacDonalds auf Kosten von seriöser Literatur, Musik und sonstigen Veranstaltungen sogenannter Hochkultur war Ausdruck des Protestes, samt und sonders vom „Kulturbürgertum“ verachtete Felder der kulturellen Landkarte. Das Schlagwort von der Gegenkultur machte die Runde, ohne dass sich das Profil einer dezidiert alternativen Aussteiger-Kultur im Westen Deutschlands bereits abzeichnete.

Progressiv lautete unsere Losung. Fortschritt war kein negativ konnotierter Begriff, sondern wies den Weg aus dem kulturellen Mief der deutschen Nachkriegszeit. Die Kohorte der Afficionados setzte sich aus beinahe allen sozialen Schichten zusammen. Die meisten waren kleinbürgerlicher und bürgerlicher Herkunft, manche hatten einen handwerklichen Hintergrund, und ein paar stammten aus der Arbeiter- und Facharbeiterschicht. „Die sechziger Jahre“, sagte der kürzliche verstorbene Arthur Penn, mit Filmen wie „Bonnie and Clyde“ ein Leuchtturm des neuen amerikanischen Kinos, „sind eine innere Haltung“.

Dass die sogenannten 68er aus der Studentenschaft das Monopol, den Wandel der deutschen Nachkriegsgesellschaft bewirkt zu haben, für sich beanspruchen, gründet auf purer Behauptung und einer grandiosen Selbstüberschätzung. Die Generation der Kriegskinder war nicht unpolitischer als die 68er, die jene aus Motiven der Differenz rasch als „bürgerlich“ brandmarkten, allerdings nicht so ideologisch vernagelt. Daher geriet sie mit ihnen trotz einiger Sympathie nach dem Scheitern der Revolte in der politischen Sphäre über Kreuz, als die 68er die Kulturszene infiltrierten und am Prinzip der künstlerischen Autonomie rüttelten. Besonders an der Kunst, präziser, an der Sparte, die einst unter Bildender Kunst rubriziert wurde, schieden sich der Geister. Durchaus einig in diesem Punkt mit Adorno verstanden die Künstler, Kunstvermittler und Gefolgsleute der avancierten künstlerischen Tendenzen das radikale Autonomieprinzip der Kunst als politisches Argument. Marcel Duchamp hatte Pablo Picasso als künstlerische Pilotfigur ersetzt. Da sie jeder ideologischen Instrumentalisierung der Kunstwerke dezidiert eine Absage erteilte, war eine strikt autonome Kunst in ihren Augen ungeeignet, eine wünschenswerte Botschaft zu transportieren. Der amerikanische Künstler Dan Flavin höhnte: Wer eine Botschaft habe, solle sich an die Post wenden.

Vor der Folie des kommerzialisierten Kunstbetriebs zu Beginn des 21. Jahrhunderts oder seiner Alternative, des üppig subventionierten künstlerischen Mittelmaßes, muss eine derartige Einstellung wunderlich, ja naiv erscheinen. Umso mehr, als sich die kommerzielle Kunst der Gegenwart auf die avancierten Kunstkonzepte vor einem halben Jahrhundert beruft. Die überwiegende Zahl der Künstler, die heute den Ton angeben und die Umsatzlisten des Kunstmarktes anführen, pflasterte mit den Bausteinen der avancierten Kunst, die mitunter betont anti-kommerziell zugehauen waren, den Weg ihres Erfolges. „Konzeptuell“ ist zum abgegriffenen Modewort geworden, mit dem sich jedes noch so unzulängliche Kunstwerk problemlos rechtfertigen lässt. Die Widersprüche sind eklatant – hatten die 68er letzten Endes recht mit ihren Verdächtigungen bürgerlicher Schwäche?

Die Antwort kann, wie zu erwarten, nicht eindeutig ausfallen. Das schmähende Verdikt „bürgerlich“ ist ebenso inhaltsleer wie der künstlerische Qualitätsbegriff, den die Hochkultur proklamierte. Wer an den Kern der Sache will, was nicht zu verwechseln ist mit einer wie auch immer gearteten „Wahrheit“, stößt allerdings auf eine Schwierigkeit: dem Mangel an belastbaren Dokumenten. Damit bin ich schon bei dem angesprochenen wissenschaftlichen Desiderat.

Was über diese Zeitspanne des Umbruchs in Kunst und Ästhetik zu lesen ist, fußt in der Regel auf den persönlich eingefärbten Erinnerungen der Akteure – also auch denen Ihres aktuellen Redners. Sie sind entsprechend subjektiv gefiltert. Obendrein auf Büchern, die entweder diese Erinnerungen mit jeweils authentischem Material versorgt haben oder wiederum Bücher zitieren, die in souveräner Missachtung des Quellenmaterials verfasst wurden. Jeder sollte allerdings wissen, welche Streiche einem das Gedächtnis spielen kann. Erinnerungen sind wichtig, aber frag-würdig.

Die eigentliche künstlerische Diskussion fand in diesen Jahren des Auf- und Umbruchs in Deutschland auf den Seiten der Feuilletons vieler überregionaler, aber auch regionaler Tageszeitungen statt. Eine kleine Reihe von engagierten Kunstkritikern und Kunstredakteuren eröffneten den Künstlerinnen und Künstlern, den Ausstellungen der privaten Galerien und der Kunstvereine und wagemutigen Museen eine Öffentlichkeit, deren Ausmaß im krassen Gegensatz zum Umfang der wirklich an diesen Erscheinungen zeitgenössischer Kunst Interessierten stand. Neben den Kunsthändlern haben die Kunstkritiker entscheidend dazu beigetragen, dass Beuys und Richter, Polke und Palermo, Darboven und Rinke, Katharina Sieverding und Jügen Klauke, Imi Knoebel und Ulrich Rückriem sowie Anna und Bernhard Blume in den Orbit der internationalen Reputation gelangten. Solo-Ausstellungen deutscher Künstler in den renommiertesten Galerien New Yorks, von den Museen ganz zu schweigen, waren anfangs der siebziger Jahre undenkbar.

Die Kulturseiten der „Frankfurter Allgemeinen“ unter der beherzten Kunstredakteurin Eva Maria Demisch, in denen Georg Jappe, Laszlo Glozer, Hans Strelow und Hans Peter Riese Ende der sechziger Jahre über Kunstphänomene zu schreiben anfingen, die sonst allenfalls unter „Vermischtes“ berücksichtigt wurden; das Feuilleton der „Süddeutschen Zeitung“, zu der Glozer alsbald wechselte; der NRZ in Essen, bei der Heiner Stachelhaus sich für die neuen Tendenzen stark machte; des „Mittag“, in dem John Anthony Thwaites seine bisweilen giftigen Kritiken publizierte, solange die Zeitung existierte; der „Aachener Nachrichten“, das ich von 1965 - 1970 verantwortete – diese und einige andere Blätter waren aufgeschlossener für avancierte Kunstbestrebungen als die etablierten Kunstzeitschriften wie „Das Kunstwerk“, das der klassischen Moderne anhing, „Die Kunst und das schöne Heim“ oder die „Weltkunst“. Erst mit Hans Alexander Baiers „Magazin Kunst“ änderte sich die Situation auf dem Gebiet der Fachzeitschriften. Ohne Georg Jappe und Heiner Stachelhaus wäre Beuys in der Öffentlichkeit womöglich nie ernst genommen worden. Nur wer sich der Mühe unterzieht, in den Zeitungsarchiven die Presse dieser Jahre zu mustern, bekommt einen Eindruck von der Intensität und Argumentationsfülle der Auseinandersetzungen. Der „Spiegel“ beschränkte sich auf Häme, ehe Jürgen Hohmeyer und Karlheinz Schmid vorsichtig das Spektrum erweiterten, und die „Zeit“ brauchte ihre Zeit, um sich der konservativen Schlacken ihrer Urgründe zu entledigen.

Der unbedingte Einsatz für die avancierten Tendenzen der Kunst war freilich nicht ohne Risiko. Wenigstens zwei der Redakteure oder Kritiker wurden deswegen gefeuert. Einer ausdrücklich mit der Begründung seines scheinbar überzogenen Engagements für zeitgenössische Kunst. Nur selten findet sich in den wissenschaftlichen Darstellungen der avancierten „West-Kunst“ ein Echo des Tagegeschäfts der seinerzeitigen Kunstkritik, obwohl sie Maßstäbe des ästhetischen Urteils gesetzt hat, die, mit Kant und Hegel oder den französischen Meisterdenkern aufgemotzt, nach wie vor in Geltung sind.

Eben so wenig bekannt sind die schmalen Kataloge, die, wenn überhaupt, die Ausstellungen in Kunstvereinen und in den privaten Galerien begleiteten. In wissenschaftlichen Bibliotheken sind sie so gut wie nicht zu finden. Vor allem die Kunstvereine und die Museen, die sich den Künsten des „Nouveau realisme“, der Antiform oder der „Kunst im Kopf“ – um die damals geläufigen Bezeichnungen zu verwenden – widmeten, haben stets Wert auf Publikationen gelegt. Aus Kostengründen meist in Broschur, dafür mit informativen statt pseudo-theoretischen Texten versehen. Beispielhaft seien die Katalogobjekte des Museums in Mönchenglabdach von Johannes Cladders genannt und die quadratischen Kataloge des Zentrums für aktuelle Kunst in Aachen mit dem programmatischen Titel „Gegenverkehr“. Sie hatten niedrige Auflagen und waren mitunter so dünn, dass sie verständlicherweise verloren gingen.

Da diese Quellen bislang selten oder nicht angezapft wurden, ist auch das Bild, das vom internationalen Aufbruch der deutschen Nachkriegskunst im Schwange ist, nicht nur unvollständig und schief, sondern entscheidende Merkmale und Zusammenhänge fehlen. Die großzügig ignorierten Quellen liefern signifikante Einsichten, klären über Motive auf, können Widersprüche lösen und entbehren obendrein nicht einer gewissen Pikanterie. Das bizarrste Moment ist wohl die denkwürdige Allianz von avancierter Kunst, „progressivem“ Kunsthandel, engagierter Kunstkritik, aufgeschlossener Museumsszene und risikofreudigen Privatsammlern. Diese zeitgebundene Koalition wandte sich gegen die Vorstellungen der spätbürgerlichen Kulturgesellschaft und die fast geschlossene Front der großen Museen, die mit Ankäufen zeitgenössischer Kunst geizten und das Treiben der Happening-Akteure, der De-Collagisten und Akkumulateure, der Prozess- und Konzept-Künstler sowie der Performer mit Skepsis oder Ablehnung beäugten. Besonders in den Museen herrschte der Geist der Kontinuität. Darüber hinaus mussten die noch eine schlimme Scharte auswetzen. Sie suchten die Werke der diffamierten Künstler, die sie in der Nazizeit auf höheres Geheiß ausgesondert hatten, zurückzukaufen. In punkto Erwerb zeitgenössischer Kunst hat Gert von der Osten, der Generaldirektor der Kölner Museen, die Richtung gewiesen: Sammler geh´Du voran! Im Retoblick durchaus keine unvernünftige Haltung, die vieles Unerhebliche aus den Museumssammlungen fern gehalten hätte. Wir hatten dafür indes nicht das geringste Verständnis.

Nicht von ungefähr schlossen sich 1966 achtzehn Galerien zu einem Verein zusammen. Einziger Zweck, zeitgenössische Kunst zu befördern. Der „Verein progressiver deutscher Kunsthändler“ veranstaltete im Herbst 1967 den ersten „Kölner Kunstmarkt“, die Mutter aller Kunstmessen, und das Produkt widersprüchlicher Interessen. Mit zeitgenössischer Kunst waren weder Lorbeeren zu ernten noch kommerzielle Erfolge zu feiern. Die überwiegende Mehrzahl der in den Galerien vertretenen Künstler begriff ihre Arbeit obendrein als nicht-kommerziell. Gemälde mit plakativen Bild-Motiven aus Werbung, Pin-ups und alten Comics, Skulpturen aus wertlosen Materialien, Ideenskizzen auf fliegenden Blättern und die in jeder Beziehung bescheidenen Fotografien von irgendwo vollzogenen Handlungen mit künstlerischem Anspruch unterstrichen ihre Überzeugung. Die bizarre Allianz von Künstlern, Händlern, Kritikern und offiziellen Vermittlern, Geschäftsführern oder Direktoren der Kunstvereine und kleineren Museen, – Kuratoren waren nur in den USA bekannt – beruhte ausschließlich auf der gemeinsamen Leidenschaft für die unmittelbar zeitgenössische Kunst.

Dass Bilder und Plastiken der Pop Art und des Hard Edge die Erinnerung an den ersten Kunstmarkt im Kölner Gürzenich prägen, könnte meine Feststellung, die ausgestellte Kunst sei nicht-kommerziell orientiert gewesen, dementieren. Das ist nicht der Fall. Denn die Bilder der Pop Art wirkten auf das Gros des Publikums, ob Parteigänger der kanonischen Moderne oder kunstferne Öffentlichkeit, wie der berühmte Schlag ins Gesicht. Obwohl sie sich mit Gegenständen beschäftigten, die offen kommerziellen Charakter hatten, reüssierten die Werke der Pop Art erst einmal weder in den USA noch in Europa. Ein Satz von Peter Ludwig, geäußert in einer Diskussion des Aachener Grenzlandtheaters über die kulturelle Tristesse der Kaiserstadt, wirft ein scharfes Licht auf den Stand der künstlerischen Dinge in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre: „Pop Art ist schlimmer als Nazikunst“. Wenig später, im Januar 1968 (!) wird sich derselbe Mann vom künstlerischen Saulus in einen Paulus verwandeln. Kein Wunder, dass die kritischen Geister des spät-bürgerlichen noch winzigen Kunstbetriebs in der Pop Art begeistert jenen Wirbelsturm begrüßten, der die routinierten Seelen-Ergüsse eines epigonalen Informel von den Wänden der fortschrittlicheren unter den Kunstmuseen und Galerien fegen sollte. Für zahlreiche Künstler – Richter, Polke und Konrad Lueg seien als Beispiele erwähnt –, für einzelne private Sammler, Kritiker und Ausstellungsmacher hatte Pop Art den Effekt eines Befreiungsschlags. In Aachen freilich, wo Ludwig seit seiner legendären Reise nach New York im Januar 1968 Pop Art en gros einkaufte, ließen die Verantwortlichen des Suermondt-Museums die Transportkisten aus dem fernen Amerika ungeöffnet im Kellermagazin verschwinden, bis die Kölner mit dem gewitzten kommunalen Kulturpolitiker Kurt Hackenberg und dem bereits zitierten von der Osten an der Spitze die besten Stück der privaten Sammlungen in ihr Wallraf-Richartz-Museum lotsten: Sammler geh´ Du voran!

Auch wenn die Verbindungen zwischen Pop und den Aktions-Künsten in der Bundesrepublik nicht so eng waren wie in New York – die allmählich wachsende Resonanz einer Kunst im „Jargon der Straße“, wie der britische Kurator und Kritiker Lawrence Alloway formulierte, erfüllte auch am Rhein die Funktion eines Eisbrechers für die avancierten künstlerischen Bestrebungen, gleichsam einer zweiten Avantgarde. Als das Museum in Mönchengladbach nach dessen Ausstellung in der Düsseldorfer Galerie Alfred Schmela die Werke von Beuys zeigte, war das öffentliche Echo groß. Die Feuilletons berichteten ausführlich, die bunten Seiten ebenfalls. Der Rundfunk und das Fernsehen, die in der Kunst noch nicht das Spektakel im Visier hatten, mischten kräftig mit. Kritiker wie Hanno Reuther, der auch für die „Frankfurter Rundschau“ und das „Magazin Kunst“ schrieb, Rolf Wiesselmann, Bernd Rohe und Wibke von Bonin vom WDR stellten im Chor mit der Presse einen Resonanzraum her, welcher der tatsächlichen öffentlichen Meinung nicht entsprach. Das gleiche trifft für ihre Reaktion auf die Ausstellungen avancierter Kunst in den Galerien, den Kunstvereinen und Museen zu.

Davon profitierte der neugegründete Kunstverein „Gegenverkehr“ in Aachen ebenso wie der weit ältere Westfälische Kunstverein in Münster, die Museen in Krefeld mit Paul Wember als Direktor, Mönchengladbach mit Cladders als Chef und Schloss Morsbroich in Leverkusen unter Udo Kultermann und besonders Rolf Wedewer. In den Jahren zwischen 1968 und 1974 waren sie mit den privaten Galerien die Laboratorien des Neuen. Es steht außer Frage, dass die Kunstkritik die oppositionellen Kräfte schwächte und den Kreis der Aficionados langsam, aber stetig vergrößerte. Später kam zu den genannten Institutionen durch Wulf Herzogenrath der Kölnische Kunstverein hinzu. In Bonn war es, abermals um einige Jahre versetzt, dank Dorothea von Stetten und in ihrer Nachfolgerin Margarete Jochimsen der Bonner Kunstverein sowie das Kunstmuseum in der Rathausgasse, an dem Dierk Stemmler nicht nur ausstellte, sondern frühzeitig sammelte. Zum Schluss suchte auch das Rheinische Landesmuseum Bonn Anschluss, das als erstes deutsches Museum in seinem Neubau eine inzwischen abgerissene Halle für wechselnde Ausstellungen vorgesehen hatte. Gewichtigen Anteil an der entgegen landläufigen Gerüchten ziemlich inspirierenden Situation in der provisorischen Bundeshauptstadt hatten die Galerien von Erhard Klein und Philomene Magers. Sie lieferten die Plattform für jene Künstlerinnen und Künstler, die Fotografie, Video und Film als künstlerische Medien entdeckten und adaptierten wie Polke, Klauke, die Blumes, Sieverding, Ulrike Rosenbach oder Rosemarie Trockel. Gemessen an Bonn war Berlin tiefe Provinz. In Aachen etablierte sich aus den Beständen der Sammlung Ludwig, die nicht nach Köln wanderten, das Ludwig Museum im Alten Kurhaus, das Wolfgang Becker kundig leitete.

Die Medien lieferten den notwendigen Rückenwind, um der avancierten Kunst zu einer ausgesprochenen Erfolgsstory zu verhelfen. In Monschau erlebte die Außenkunst-Ausstellung „Umwelt-Akzente“ im Frühjahr 1970, die nur einen Etat von 20.000 bis 30.000 DM hatte, einen Presseansturm wie die „documenta“ in Kassel. Die inländischen Tages- und Wochenzeitungen hatten ihre Journalisten und Kritiker in die Eifel entsandt. Die ausländischen nicht minder, bis hin zur „New York Harald Tribune“ – wie sie noch hieß –, die dem Unternehmen fast eine ganze Zeitungsseite einräumte, und in der „Zeit“ kommentierte der Chefredakteur selber.

Demgegenüber reagierte das Kunst-Publikum auf die ungewöhnlichen Kunstereignisse zögerlich oder wie in Monschau aggressiv. Als Ausstellungsmacher kannte man seine paar Besucher mit Namen. Deshalb kann es nicht überraschen, dass unter den Gegnern dieser bisher letzten Manifestationen einer künstlerischen Risikoexpedition allerhand Verschwörungstheorien kursierten. In der Tat schienen die fließenden Grenzen zwischen Künstlern, Kunsthändlern, öffentlichen Ausstellungsmachern, Kritikern sowie vereinzelten Sammler derlei Ansichten zu nähren. Und es ist auch etwas dran, weil sich alle in ihrem Enthusiasmus für die neuen Kunsttendenzen einig waren und mit gebotenem Elan und sämtlichen ihnen verfügbaren, nicht einmal unbeträchtlichen Mitteln für sie einsetzten. Koalitionen auf Zeit waren üblich, Freundschaften möglich, und da die Szene in der Kunstwelt wirklich überschaubar war, kannte man sich. Ob der „Ratinger Hof“ oder die „Uehl“ in Düsseldorf, wo fast ständig Künstler, Sammler oder Kritiker aus der gesamten westlichen Welt anzutreffen waren, oder „Max´s Kansas City Bar“, Park Avenue – 17th Street, downtwon Manhattan – die informellen Treffpunkte einer sich entfaltenden internationalen Szene waren die Drehscheiben vielfältigen Austausches.

Schlüsselgestalt oder, je nach Perspektive, Drahtzieher in der grob skizzierten Gemengelage war Konrad Fischer. Als Konrad Lueg hatte er zusammen mit Richter und Polke den „Kapitalistischen Realismus“ erfunden, und den beiden Kollegen im Rheinland manche Tür aufgestoßen. In seiner handtuchgroßen Galerie unweit der Kunstakademie in Düsseldorfs Altstadt stellte er Künstler wie Carl Andre, Sol LeWitt, Bruce Nauman, Dibbets, Weiner, Richard Long, Bernd und Hilla Becher, Douglas Huebler und Hanne Darboven aus. Sie war seit langem der erste deutsche Nachkriegskünstler, der in einer einflussreichen New Yorker Galerie, bei Leo Castelli, ihre erste Einzelausstellung hatte. Fischer war umtriebig und bestens vernetzt. Mit dem einflussreichen Kritiker Strelow, der jetzt Kunsthändler ist, verwirklichte er mehrere Ausgaben von „Prospekt“ in der Düsseldorfer Kunsthalle als Alternative zum Kölner Kunstmarkt mit „progressiverem“ Programm; mit Wedewer die Ausstellung „Konzeption – Conception, mit Zdenek Felix eine Konzept-Art-Ausstellung in Basel und mit mir die Abteilung „Idee und Idee/Licht“ der legendären Szeemann- documenta 5. Er unterhielt intensive Beziehungen zu den Galerien Yvon Lambert in Paris und Gian Enzo Sperone in Turin. Mit dem Italiener und Angela Westwater gründete er eine erfolgreiche Galerie in New York. Zu Germano Celant, dem Impressario der Arte povera, sowie Seth Siegelaub, dem wichtigsten Motor der Conceptual Art, pflegte er freundschaftliche Beziehungen. Die Galerie von Paul Maenz in Köln wird seinen Einsatz bald wirkungsvoll flankieren.

Eine Handvoll Galerien, Kunstvereine und Museen in der westdeutschen Provinz, nicht zu vergessen die Documenta in der nordhessischen Provinz, die jeweils sehr personenabhängig waren, haben den Boden beackert, aus dem am Ende die Groß-Ausstellungen wie „Westkunst“ in Köln und „Von hier aus“ in Düsseldorf die Früchte ernteten. Die kurze Periode des Aufbruchs war vorbei, als sie und ihre vielen Nachfolger eingerichtet wurden. Die Szene hatte sich differenziert. Die spröde Kunst von Minimal- über Land-, Process- bis zur Conceptual Art sowie den performativen und den fotografischen Explorationen begannen die Modi des Künstlerischen zu verändern. „Westkunst“ gemeindete die anti-normativen Erscheinungen der jüngeren Kunst bereits in das Terrain der künstlerischen Moderne ein. „Von hier aus“ in Düsseldorf verstand sich als Bilanz – mit lokalpatriotischer Geste. Der Wind hatte sich zugunsten einer zeitgenössisch avancierten Kunst gedreht, und sie entpuppte sich allmählich als „Erfolgsstory“ (Martn Warnke). Umgekehrt passte sich die Kunst an die Erwartungen an und verzichtete auf ihren anti-kommerziellen Supcon. Mit Ausnahme der Künstler, die vergessen worden sind. Am Horizont war der Hype erkennbar, den die kommerzialisierte Avantgarde, die West-Kunst seit zwanzig Jahren begleitet. Vergeblich versuchte eine Ausstellung wie „Schlaglichter“, die ich für das Rheinische Landesmuseum Bonn im September 1979 organisierte, mit Focus auf die ungeheuer brodelnde rheinische Kunstszene, gegen die sich abzeichnende Umarmung des Unvorhersehbaren und Querliegenden in der Kunst zu steuern. Die Ausstellung hatte Erfolg, doch, um mit Kurt Tucholsky zu sprechen, keine Wirkung. Immerhin absolvierten Thomas Schütte und Isa Genzken darin ihre ersten Auftritte.

Fragt man, was von den vielen Aktivitäten des künstlerischen Aufbruchs in Form von exemplarischen Leistungen am Ende in den deutschen Museen hängen geblieben, ist die Antwort ernüchternd: Nicht eben viel. Am meisten im Museum Mönchengladbach, einiges im Krefelder Museum, und darüber hinaus das, was die privaten Sammler in Deutschland den Museen anvertrauten. Eine der raren Ausnahmen bildet das Kunstmuseum Bonn, das prägnante künstlerische Zeugnisse dieser aufregenden Zeit kontinuierlich für die eigene Sammlung erwarb. Dass mit dem Wolf-Vostell-Konvolut im Leverkusener Museum Morsbroich kürzlich ein Schwerpunkt für den weiterhin unterschätzten Künstler ins Leben gerufen wurde, beflügelt die Hoffnung, dass diese Jahre des künstlerischen Aufbruchs endlich ernsthaft beleuchtet werden. Den Künstlern gaben die frühen Ausstellungen in der „rheinisch-westfälischen Provinz“ entscheidende Schubkraft, wie Thomas Schütte mir kürzlich versicherte und die Monographien von Richter, Immendorff, Kippenberger e tutti quanti es unterstreichen.

Was bleibt sonst? Auf der Habenseite eine nie dagewesene Popularität der zeitgenössischen Kunst. Auf der Sollseite der Verlust der ästhetischen Maßstäbe und die totale Unübersichtlichkeit und Austauschbarkeit des Künstlerischen – falls man den unvermindert verbindlichen Parameter ausblendet: das Geld.

Die Kunst der Antiform hatte als negative ästhetische Praxis den Kanon der Avantgarde als Bezugssystem fest im Blick und rieb sich daran. Im paradoxen Umschlag bestätigten die prozessualen und konzeptuellen Einlassungen diesen Kanon durch ihre Gegnerschaft. Paradigmatisch in diesem Zusammenhang sind die Texte von Daniel Buren, die Duchamp wieder relativierten, und einer Post-Moderne die theoretische Basis bereiteten. Mit ihrer uferlosen Selbst-Referenzialität ist die westliche Kunst der aktuellen Gegenwart demgegenüber zum wohlfeilen Selbstbedienungsladen geworden. Nicht zuletzt, weil das Museum seinen Vorbildcharakter als Institution des ästhetischen Urteils eingebüsst hat, sind die Urinoirs von Duchamp – wie Buren sarkastisch bemerkte – neuerlich an einem Ort, wo sie wie an ihrem einstigen Funktionsplatz nicht (mehr) als ästhetische Herausforderung wahrgenommen werden.

© Klaus Honnef

Kunstkritik unter Artenschutz (2009)

KUNST Magazin Berlin, 0909

Als sich anno 1949 eine Gruppe europäischer Kunstkritiker in Paris zur Association internationale des critiques d’art, kurz AICA, zusammenschloss, näherte sich ihr Metier dem Zenith seiner Macht. Es hatte sich zu einem eigenständigen Beruf entwickelt und begann, massiv seinen Einfluss auf die Wege der zeitgenössischen Kunst auszuüben. Eine Ursache lieferte die Geschichte: Das kunst- und kulturfeindliche Nazi-Regime, das jede Form von Kritik verboten und unterdrückt hatte, war zusammengebrochen. Das besetzte Europa hatte sich aus dessen Zwängen befreit oder – präziser – befreien lassen. Kritik war eine Äußerungsform der wieder gewonnenen Freiheit.

Kunstkritik ist gleichwohl keine neue Disziplin. Ursprünglich waren es Künstler, die sie betrieben. Sie verfassten Traktate zu technischen oder anderen pragmatischen Fragen der Kunst. Die ideologischen Programme schrieben ihnen im Sinne der klerikalen oder säkularen Auftraggeber die Humanisten vor. Im Absolutismus setzten Akademien die ästhetischen Maßstäbe und über-wölbten das einstige Handwerk mit einem theoretischen Gerüst. Zwar überlebten die Akademien auch die bürgerliche Revolution. Doch es vergingen Jahrzehnte, bis die klassischen Maßgaben unter dem Druck des bürgerlichen Individualismus zugunsten einer künstlerischen und phasenweise bohèmehaft politischen Opposition fielen. So trat die Avantgarde ihr Regime an und berief sich fortan auf eine Art negativer Ästhetik, auf eine Ästhetik, die sich gegen die künstlerische Überlieferung und ihren „falschen Schein“ richtete und diese gleichwohl in der Institution des Museums, wo sie in konkreter Gestalt gesammelt wurde, unfreiwillig, aber umso nachhaltiger bestätigte.

Im Widerstreit der künstlerischen Diskussionen und mit dem Aufkommen der bürgerlichen Presse entfaltete sich der Modus einer von Künstlern und politischen Autoritäten relativ unabhängigen Kunstkritik. Schriftsteller, bisweilen mit philosophischem Hintergrund, übernahmen das Geschäft. Diderot und die Enzyklopädisten eröffneten den Reigen im Lichte der Aufklärung. Baudelaire, die Brüder Goncourt und Zola variierten ihn, und Appollinaire, Max Jacob, André Salmon und Julius Meier-Graefe legten Anfang des 20. Jahrhundert das Fundament, auf dem die Kunstkritik der zweiten Nachkriegszeit ihr Herrschaftsgebäude bauen konnte. Kein Zufall, dass französische Namen in der Liste überwiegen.

Von Paris aus liefen auch die Vorbereitungen dazu, eine deutsche Sektion zu gründen; 1951 war es so weit, dass die deutsche AICA Wind unter die Segel bekam. Man begriff sich als Eliteclub. Zwei Drittel der Anwesenden in den Versammlungen mussten zustimmen, um ein neues Mitglied zu wählen. Zu den Zielen des internationalen Verbandes gehörte es, die jüngsten künstlerischen Tendenzen mit Sympathie zu begleiten und die Kritiker untereinander zu vernetzen. Die AICA erreichte allerdings nie dieselbe Machtposition wie manche ihrer Mitglieder. Die maßgeblichen Kunstkritiker warfen sich in die Robe von Anwälten der autonomen Kunst. Deren ästhetisches Prinzip bestand darin, sich jeder politischen oder sonstigen Instrumentalisierung zu verweigern und sich ausschließlich an eigenen Gesetzmäßigkeiten zu orientieren. Die galt es gegen konservativ-reaktionäre Gesinnungen und ein vorwiegend ignorantes Publikum zu verteidigen und gegen die Herausforderungen der industriell-kommerziellen Künste durchzusetzen. Zwischen Scylla und Charybdis navigierte die Kunstkritik die Schaluppe der Kunst in die Bucht der Abstraktion.

Die abstrakte Kunst stieg mit den engagierten Argumenten der Kunstkritik zum Markenzeichen der künstlerischen Freiheit schlechthin auf. Die wichtigsten Vertreter der Branche schrieben in den Feuilletons der überregionalen Zeitungen, den Kunstzeitschriften, veröffentlichten im Rundfunk, verfassten die wenigen Bücher zum Thema und organisierten oder berieten maßgebliche Ausstellungen wie die documenta; mitunter in Personalunion. Kaum vorstellbar, dass die Abstraktion ohne Kritiker wie Will Grohmann, Werner Haftmann, John Anthony Thwaites und Hanns Theodor Flemming in (West-) Deutschland, ohne Clement Greenberg und Robert Rosenblum in den USA zur Erfolgsstory geworden wäre. Ihre Ansichten bestimmen nach wie vor die geschriebene Geschichte der westlichen Nachkriegskunst. Die figurative Kunst dieser Zeit ist deshalb ein vergleichsweise unbekanntes Kapitel.

Gemessen daran und auch an der „einvernehmlichen“ Kritik, die den ephemeren Kunstrichtungen, Fluxus, Prozess- und Konzept-Kunst zum Durchbruch verhalf, spielt die Kunstkritik Anfang des 21. Jahrhunderts nur eine randständige Rolle. Die Gründe sind mannigfaltig: Die Kunst der Gegenwart benötigt keine Anwälte. Sie ist weitestgehend akzeptiert und hat den Oppositionsgeist aufgegeben. In einer Konsum- und Mediengesellschaft läuten oppositionelle Gesten ohnehin nur die nächste Modewelle ein. Nie waren die ästhetischen Maßstäbe individualistischer und die Szene pluralistischer. Das unterhaltsame Kunterbunt der Kunstmärkte prägt das Bild der Kunst, und die Museen werden ihnen zunehmend ähnlicher. Es bedarf keines Cicerones, um den Dschungel scheinbarer Unübersichtlichkeit zu bewältigen. Denn der Dschungel ist die Attraktion. Wie einst die Westernfans dank überlegener Seherfahrung als Spezialisten in punkto Kenntnisse die Filmkritiker ausstachen, haben Fernsehen, Computerspiele und Internet die heutigen Kunstkonsumenten zu Experten der visuellen Wahrnehmung gemacht.

Die Kunst der Vergangenheit und die Museen „alter Schule“ haben ihre frühere Geltung als Positionslichter verloren. Mit einschneidenden Konsequenzen für das Selbstverständnis der Kunst. Es zählt die pure Gegenwart. „Museen der Gegenwartskunst“ oder private Sammlermuseen liefern die Foren. Die Kunstkritik hat ihre sachlich-fachliche Meinungsführerschaft den privaten Sammlern überlassen müssen. In direktem Kontakt mit den Künstlern eignen diese sich die Kompetenz an, um zum ästhetischen (Kauf-)Urteil zu gelangen. Artenschutz genießen die Kunstkritiker nicht.

© Klaus Honnef

Nach 74 Jahren stellt Kodak die Produktion seines legendären Kodachrome-Films ein (2009)

Die Welt, 24. Juni 2009

Wie viele unvergessliche Momente längst vergessener Urlaube hat er nicht festgehalten oder, wie es früher hieß, verewigt? – der Farbfoto-Film mit dem Namen Kodachrome. Unzählige! Mama und Papa in Italien, Else und Ludwig in Ägypten, Onkel Josef ohne Tante Friedchen in Thailand... Viele werden sich noch mit leichtem Gruseln an die unvergesslichen Abende mit nicht enden wollenden Diaprojektionen erinnern, die Verwandte und Freude in der stillen Hoffnung, etwas Neid zu erregen, den Daheimgebliebenen nach Rückkehr von einer Reise zu bescheren pflegten. Inzwischen verstauben die Dias oder Papierabzüge, soweit sie sich überhaupt erhalten haben, und bleichen aus. Was niemanden daran hindern wird, auch künftig unverdrossen die Kamera zu zücken, um aufzunehmen, was bereits millionenfach aufgenommen worden ist.

Weil die Nachfrage gleichwohl dramatisch nachgelassen hat, der Film Kodakchrome also selber allmählich vergessen worden ist, hat Eastman Kodak, einst ein Gigant der fotografischen Industrie, am Wochenbeginn angekündigt, dessen Produktion einzustellen. Damit verschwindet wiederum ein Monument der industriellen Kultur von der Bildfläche, eine „Produkt-Ikone“, wie Mary Hellyar, Präsidentin der fotografischen Aktivitäten des Unternehmens emphatisch erklärte. Times goes by...

Als die amerikanische Firma den Kleinbilddiafilm anno 1935 auf den Markt brachte, galt er als das Non-Plus-Ultra des technischen Fortschritts. Jetzt ist er seinerseits technisch überholt und hat endgültig ausgedient. Nicht nur die fortschreitende Digitalisierung des Mediums hat sein Ende eingeläutet, auch die Entwicklung modernerer analoger Filme. Kein Staat in Sicht, der ihn retten mag. Zuletzt, erklärte Kodak, habe Kodachrome weniger als 1 Prozent der Filmverkäufe ausgemacht.

Schon die Pioniere des Mediums hatten von der Farbfotografie geträumt. Sie galt ihnen als die Vollendung des fotografischen Verfahrens schlechthin. Seit den gelungenen Versuchen der Gebrüder Lumière mit einem aufwändigen additiven Farbverfahren kurz nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert waren farbige fotografische Bilder keine Seltenheit mehr. Doch erst mit der Erfindung des dünnen Mehrschichten-Farbumkehrfilms begann die eigentliche industrielle Phase der Farbfotografie. Zwar hatte nahezu gleichzeitig mit Kodak auch der deutsche Konkurrent Agfa einen ähnlichen Farbfilm auf den Markt gebracht. Doch der amerikanische Konzern bot die leuchtenderen Farben und hatte auf Dauer den längeren Atem. In punkto Farbkontraste, Feinkörnigkeit und Haltbarkeit übertraf der Kodachrome sämtliche Mitbewerber und eroberte sich binnen weniger Jahre ein Massenpublikum.

Irgendwie wirkten die fotografischen Bilder von Kodachrome immer ein bisschen schöner als die fotografierte Realität, und letzten Endes überglänzten sie schließlich die persönlichen Erinnerungen, so dass mit einem Mal alles so gewesen ist, wie es die Bilder, zumal als brillant ausgeleuchtete Dias, schilderten. Es war, als hätte immer Die Sonne geschienen. Vermutlich hat der Kodachrome-Film auch nachhaltig den verbreiteten Eindruck befördert, dass die Schwarz-Weiß-Fotografie paradoxerweise die „realistischere“ Variante des technischen Mediums sei, weil die Welt für die Meisten gewöhnlich nicht annähernd so schön war wie Welt auf den Kodachrome-Aufnahmen. Dass die Werbung sich die besondere Ausstrahlung des Farbfilms zunutze machte, verwundert deshalb nicht weiter. Noch vor dreißig Jahren notierte ein Lexikon der Fotografie, dass „85 % aller Kamerabesitzer Farbfilme“ verwendeten, davon bestritt Kodakchrome den Löwenanteil. Längst aber haben die Chips den Film ersetzt, und das Licht übermittelt die fotografierten Motive nicht mehr unmittelbar auf die empfindliche schicht eines Films, sondern löst in der Kamera lediglich einen Rechenprozess aus, der ein durch und durch künstliches bild der fotografierten Realität erzeugt. Auch die große Fotografin Gisèle Freund realisierte Ihre berühmten Porträts der Dichter, Künstler und Musiker im Frankreich der Zeit zwischen zwei Weltkriegen mit dem fabelhaften Kodachrome-Film. Die meisten Ihrer Originalabzüge hatten an Frische und Farbdichte auch über dreißig Jahre nach der jeweiligen Aufnahme nichts eingebüsst. Vereinzelten waren ausgeblichen, obwohl sie unter gleichen Bedingungen gelagert worden sind wie die bestens Konservierten. Vielleicht das schönste Denkmal setzte der französische Künstlerstar Christian Boltanski dem amerikanischen Farbumkehrfilm. Nach dem Muster der populärsten Bildmotive in Kodachrome, wie sie Kodak häufig auch für die eigene Werbung nutzte, schuf er ein Projekt mit dem bezeichnenden Titel „Modellbilder“. Prachtvolle Sonnenuntergänge, die Freundin auf dem Markusplatz vor dem Campanile, Blumenrabatte die Menge, herrliche Strände, Segelboote auf dem See…, alles was schon in technischer Perfektion überreichlich vorhanden war, sei es von Werbefotografen oder von Amateuren angefertigt, fotografierte er noch einmal getrau nach den populären Vorbildern, und in einer gemeinsamen Ausstellung des Rheinischen Landesmuseums Bonn 1976 überhöhte Annette Messager das Panoptikum noch, indem sie die unaufhörlich fotografierten Motive mit Farbstiften in Zeichnungen verwandelte. Es war trotz großer Sommerhitze eine ungeheuer erfolgreiche Schau.

Mit einer Träne im Knopfloch sagt ein bekennender Kodachrome-Amateur by, by adieu. Es war zu schön, um wahr zu sein.

© Klaus Honnef

Im Tabubezirk. Wenn Kunst den Zensor auf den Plan ruft (2009)

KUNSTZEITUNG 153 / Mai 2009 (gemeinsam mit Gabriele Honnef-Harling)

Der Sexualtrieb sei die Triebfeder der Kunst, behauptete der Sammler Eduard Fuchs und illustrierte seine Ansicht in einer dreibändigen „Geschichte der erotischen Kunst“ (1908/23) mit einer schier erdrückenden Fülle von Beispielen. Und in der Tat übertrifft, was den Künstlern der Vergangenheit an erotisch-sexueller Feizügigkeit einfiel, die mechanischen Darstellungen kommerzieller Pornografie im Zeitalter der Massenmedien beträchtlich. Nichts ist den Malern, Bildhauern und Graveuren fremd gewesen.

Dass solche Ausgeburten der erotischen Phantasie häufig, wenn auch nicht zwangsläufig, den Zensor auf den Plan riefen, sobald sie, meist im Medium der Grafik, öffentlich wurden, versteht sich. Die Vernichtungsaktionen von Kunstwerken solcher Beschaffenheit auf Geheiß aufrechter Männer (und seltener Frauen) sind Legion. Auch vor berühmten Künstlernamen machte der Furor der zur Schau getragenen Entrüstung im Interesse einer höheren Moral nicht Halt.

Noch vor fünfzig Jahren schritt im Westen des geteilten Deutschlands regelmäßig der Staatsanwalt ein, wenn in einer Kunstausstellung etwas sichtbar wurde, das man im Deutschen mit gewohntem Sinn für Feingefühl „Geschlechtswerkzeug“ nannte, vom Zeigen offenkundig sexueller Handlungen ganz zu schweigen. Einen Sekundenbruchteile währenden Blick auf den nackten Busen von Martine Carol im französischen Film war das Äußerste, das die „Freiwillige Selbstkontrolle“ der Kinowirtschaft erlaubte – selbstverständlich erst ab 18 Jahren.

Gemessen daran, herrschen in der westlichen Hemisphäre der Welt am Beginn des 21. Jahrhunderts geradezu libertinäre Verhältnisse. Mit Ausnahme der USA unter dem bigotten Regime des zweiten Bush, wo die Förderung einer repräsentativen Ausstellung der fotografischen Bilder von Robert Mapplethorpe vor einigen Jahren das „National Endowment for the Arts“, eine der raren staatlichen Institutionen zur finanziellen Unterstützung der Kunst, beinahe die Existenz gekostet hätte. Auch der Fotograf Jock Sturges sieht sich – nicht allein jenseits des Atlantiks – mannigfachen Anfeindungen ausgesetzt, weil er vornehmlich weibliche Heranwachsende unbekleidet ablichtet. Mit sichtbarem Einverständnis der Modelle, wohlgemerkt. Dennoch werfen selbsternannte Moralhüter ihn gerne mit den sinistren Herstellern, Händlern und Konsumenten von Kinderpornografie in einen Topf.
In Europa lässt es die Gesetzeshüter gewöhnlich kalt, wenn Künstlerinnen und Künstler im Detail demonstrieren, was sonst unter der Bettdecke bleibt. Problemlos zeigen deutsche Kunstinstitutionen die indiskreten Werke der Fotografen Nobuyoshi Araki oder Terry Richardson. Zumal letzterer lässt anders als der einst von Feministinnen angefeindete Helmut Newton wenig aus, was sich menschliche Phantasie auszumalen vermag. Ohne Umschweife bekannte der Direktor des Museums Kunstpalastes in Düsseldorf, Beat Wismer, laut „stern.de“, dass er die Ausstellung „Diana und Actaeon – Der verbotene Blick auf die Nacktheit“ nicht zuletzt mit Blick auf die Publikumsresonanz veranstaltet habe. Natürlich in kritischer Distanz zum Motto „Sex sells“. Publikumswirksam wies das Museum darauf hin, dass einige der Werke womöglich Anstoß erregen könnten. Und das Publikum dankte es ihm mit langen Schlangen. Die Kunsthalle Wien feierte sogar eine „Porn Identity“.

Nur auf der FIAC 2008 in Paris griff die Polizei einmal wirklich zu und beschlagnahmte auf dem Stand der Moskauer Galerie XL Fotografien des russischen Künstlers Oleg Kulik. Die Bilder sind während einer Performance aufgenommen worden und zeigen Kulik nackt – mit Tieren! Kinder und – bezeichnenderweise – Tiere scheinen, wenn sie als Objekte sexueller oder erotischer Darstellungen aufgeboten werden, in der westlichen Hemisphäre noch einen Tabubezirk zu umreißen, den zu überschreiten die Justiz herausfordert.

Was für die Kunst gilt, trifft für die Massenmedien nicht unbedingt zu, jedenfalls nicht für die offen gehandelten. Acht Seiten der verwischten Porno-Szenen von Thomas Ruff aus dem Netz, die in jeder Kunstausstellung zum Thema Erotik unvermeidlich sind und kaum mehr Aufmerksamkeit erzielen, musste das deutsche Männer-Magazin „GQ“ in seiner Septemberausgabe 2002 auf Druck der Großhändler schwärzen, die sich im vorauseilenden Gehorsam übten. Das Buch im Schirmer-Mosel-Verlag mit allen einschlägigen Bildern hingegen war und ist in jeder „guten Buchhandlung“ zu erwerben.

Obwohl im Fernsehen wieder BH und Slip angesagt sind, wenn die Akteure Liebe vor der Kamera markieren, die jungen Frauen trotz offenherzigster sommerlicher Kleidung prüder sind als ihre Eltern, und obwohl die Gegenwartskunst statt sinnlich sprühend und verführerisch eher spröde, zerebral oder belanglos ausfällt – belastbare Indizien für eine Wende in punkto sexueller Freizügigkeit gibt es nicht. Vielmehr erfährt die These Michel Foucaults ihre empirische Bestätigung, dass eine Gesellschaft der Sphäre des Erotischen und Sexuellen umso entfremdeter ist, je ausgiebiger sie sich in Bildern und Reden darüber verbreitet.

© Klaus Honnef

„Ich habe mich gelangweilt“. Interview mit dem Rheinischen Merkur (2007)

Klaus Honnef. Der internationale Ausstellungsmacher über die Mechanismen des Marktes und die Fehler der Kasseler Schau
Interview mit dem Rheinischen Merkur, Nr. 27, 21. Juni 2007 (Das Gespräch führten Hans-Joachim Neubauer und Wolf Schön)

Rheinischer Merkur: Gefällt Ihnen die Documenta 12?

Klaus Honnef: Das ist die langweiligste Documenta, die ich je gesehen habe, und im ästhetischen wie intellektuellen Anspruch die schlichteste. Es ist mir schleierhaft, wie man so viel schlechte Kunst zusammenbekommen kann. Ich muss die Präsentation und die Kunstwerke in der Neuen Galerie ausnehmen, die haben das desaströse Bild etwas aufgehellt.

RM: Was ist der Grund für das Debakel?

Honnef: Die Frage nach der Moderne ist immerhin eine künstlerisch-ästhetische Frage. Die Moderne hat mit der Zeit der Avantgarde ja eine spezifische Haltung hervorgebracht. Die hochinteressante Frage aber, ob die Moderne unsere Antike ist, wird überhaupt nicht beantwortet. Wer glaubt, dass das, was hier gezeigt wird, die Moderne sei, muss auf einem anderen Planeten gelebt haben, auf dem er von der Moderne nichts mitbekam. Die Kuratoren hier argumentieren nicht von der Kunst her. Sie haben sich, scheint mir, wieder einmal etwas ausgedacht, um ihre Thesen zu illustrieren.

RM: „Was ist das bloße Leben?“, lautet eine der Documenta-Fragen. Ist das nicht kunstfremd?

Honnef: Die Frage nach dem bloßen Leben finde ich einfach falsch gestellt. Die Kunst ist etwas anderes als das bloße Leben. Auch wenn man sie unter einem historischen Blickwinkel sieht, ist Kunst immer etwas Gesetztes, nie etwas Daseiendes, einfach Vorhandenes.

RM: Mit ihren vielfach unbekannten Künstlern scheint die Ausstellung gegen den Markt zu protestieren. Welche Rolle spielt das?

Honnef: Das Ganze ist von einer ergreifenden Schlichtheit, denn um antikommerzielle Kunst zu finden, braucht man nur in die Ateliers der lokalen Künstler hier in Kassel oder in jeder anderen Stadt zu gehen. Da findet man unverkäufliche Kunst. Mir ist das alles viel zu simpel.

RM: Kann der Markt nicht auch irren?

Honnef: Im Prinzip hat der Markt noch nie geirrt. Wenn man historisch denkt und auch die Hintergründe betrachtet – etwa die Renaissancekunst oder die Kunst des holländischen Bürgertums und ihre kulturellen und gesellschaftlichen Mechanismen –‚ hat sich da nicht viel geändert. Geändert hat sich, dass heute eine andere Klientel Kunst kauft, mit einem anderen sozialen Hintergrund, eine Klientel, die sicherlich ungebildeter ist als früher. Geändert hat sich auch, dass Kunst generell nicht mehr die Ansprüche stellt, die, sagen wir, ein Rembrandt oder ein Tizian oder ein Michelangelo gestellt haben. So hat jede Kunst ihre eigene Zeit.

RM: Welche hat die heutige?

Honnef: Wir leben in einer hochkapitalistischen Zeit, die von Marktgesetzen bestimmt wird. Da kann man dann, wie es der Kunsthistoriker Erwin Panofsky schon vor Jahrzehnten getan hat, zwischen kommerzieller Kunst und nichtkommerzieller Kunst differenzieren. Auch das hat es immer gegeben, und so ist das heute auch. In Hollywood finden Sie heute genauso eine kritische Kunst wie unerträglich kommerzielles Zeugs.

RM: Einige Räume dieser Documenta sind stark ornamental angelegt – Trend oder ein Zufall?

Honnef: Das ist kein Zufall. Das hängt auch damit zusammen, dass man die sogenannte „Migration der Formen“ darstellen will, ein hilflos wirkender Versuch, die Kunst anderer Kulturen zu präsentieren! Was andere Kulturen als Kunst betrachten oder nicht, sollte man nicht aus einer kolonialistischen Perspektive betrachten! Wenn man die auf die westlichen Plattformen holen und ihr Wirken hier nachweisen will, kommt man um etwas Ornamentales nicht herum.

RM: Ist nicht auch unsere Kunst ornamental?

Honnef: Ganze Kulturen sind ornamental geprägt. Aber auch in Europa ist die ornamentale Kultur nie verschwunden. Der Abstraktionismus, die prononcierteste Haltung in der Moderne, hat ja immer wieder ornamentale Züge. Wenn man die ganze zeitgenössische Kunst etwas bösartig betrachtet, muss man attestieren, dass sie bloße Dekoration ist. Wenn ich mir ein Bild in mein Wohnzimmer hänge, erfüllt es irgendwie auch dekorative Zwecke.

RM: Die Documenta will ja pädagogisch wirken. Glauben Sie, dass sich das Publikum ästhetisch erziehen lässt?

Honnef: Ich finde das zynisch, damit will man ja nur sein schlechtes Gewissen entlasten. Man könnte ja als Sozialarbeiter nach Afrika und sonst wo hin gehen, um zu helfen. Wenn man das hier an die Wand hängt und dazu auffordert, die Welt zu verändern, halte ich das für vordergründig. Die Documenta wendet sich ja primär an ein Kunstpublikum. Wer sich nur für Fußball und Kegeln interessiert, wogegen ich gar nichts sagen will, geht nicht auf die Documenta. Das Kunstpublikum liest Zeitung, guckt Fernsehen und ist über die Zustände der Welt mehr oder minder informiert. Es hat offenbar kein großes Interesse daran, die Welt zu verändern. So verpufft dieses Edukative. Für mich ist das eine zynische Haltung, weil das Niveau gesenkt wird; um wirkungsvoll zu agitieren, muss man ein möglichst niedriges Niveau ansprechen. Man hält das Publikum für dumm. Intelligente Leute können nicht so dumm sein, dass sie nicht wissen, dass diese Welt nicht in Ordnung ist. Hinzu kommt: Die Generalsprache ist Englisch, alles ist hochkompliziert formuliert. Und drittens müsste man, um alles zu lesen, tagelang in Kassel bleiben, und das glaubt wohl nicht mal das Werbeamt der Stadt, dass das jemand tut.

RM: Die Documenta hat ja als Weltausstellung der Besten angefangen, als eine Art Leistungsschau, dann hat sie sich zur Kuratorenselbstdarstellung gewandelt. Jetzt ist sie völlig bewegungsunfähig geworden. Wie kann die Zukunft der Documenta aussehen?

Honnef: Vielleicht sollte man sich mal wieder um die Kunst kümmern und darum, was die Künstler denken. Die kommerzielle Kunst ist ja auch für Künstler eine Herausforderung. Wenn Sie als junger Künstler sofort entdeckt werden, kommen die Pressionen des Marktes, und Sie werden förmlich ausgelutscht und weggeworfen. Wie viele junge Talente hat es, auch auf der Documenta, gegeben, und niemand erinnert sich heute mehr an ihre Namen! Aber wenn man, was Kuratoren müssen, mit offenen Ohren und Augen durch die Welt reist, gibt es genügend Künstler, die zunächst aus dem Denken der Kunst nicht die Welt verändern wollen, sondern die Wahrnehmung der WeIt. Denn das kann Kunst im besten Falle.

RM: Was kann sie verändern?

Honnef: Die Welt jedenfalls nicht! Wir werden durch Massenmedien mit Bildern zugeschüttet und manipuliert, und da gehört es zu den vornehmsten Zwecken der Kunst, dem etwas entgegenzusetzen, was gleichwohl Aufmerksamkeit erzielt. Man muss die Ansprüche nicht niedriger halten, sondern erhöhen. Kunst ist nicht für alle. Es erfordert Anstrengung, die Dinge aufnehmen zu können, sich irritieren zu lassen. Diese Documenta hat ihren Anspruch nicht annähernd eingelöst.

RM: Der ethnografische Blick spielt ja in Kassel dieses Jahr eine große Rolle: 1001 Chinesen, eine Zoogiraffe, nigerianische Fotografen: Sind das Versuche, auf die Globalisierung zu antworten?

Honnef: Vermutlich. Aber das ist doch hilflos! Die Chinesen sind in einem Aufwind, in einer wirtschaftlichen Vorwärtsbewegung nach westlichem Muster begriffen, dass wir in dreißig Jahren in Kassel, Bonn oder Berlin in der Minderheit sein werden, weil die chinesischen Touristen überwiegen. Ein amerikanischer Kulturkritiker hat für Europa die etwas zynische Prognose gestellt, dass wir das Museum der Welt sein werden; das sollten wir auch pflegen, schreibt er. Wir wären dann ein reales Disneyland! Wir werden uns bestaunen lassen: So haben also die Europäer in der Vormoderne und der Moderne gelebt.

RM: Arbeiten die Schwellenländer nicht alle mit Mitteln der Moderne?

Honnef: Ja. Überall triumphiert die Moderne, in China, in Indien: Das sind ja westliche Kulturtechniken. Die Ideen kommen nicht aus den asiatischen, afrikanischen oder islamischen Kulturen. Selbst die Bomben der Islamisten werden nach westlichem Know¬-how zusammengebaut, mit Instruktionen der westlichen Kommunikationsmedien, sodass es vielleicht eine hübsche Geste ist, die chinesischen Bauern vor der Zeit nach Europa zu bringen. Aber was bringt das außer dem Staunen? Es wäre Aufgabe der Documenta, bei dem Publikum, an das sie sich adressiert, Staunen zu erregen, es unsicher zu machen –mit den Mitteln der Kunst, nicht mit denen der Zeitung.

RM: Aktuell ist es so, dass das Medium Fotografie die klassischen Kunstmedien förmlich überrollt, nicht nur auf der Documenta. Hier gibt es kaum noch Malerei zu sehen. Ist dieses Vertrauen auf den fotografischen Realismus nicht naiv?

Honnef: Ja! Es ist bizarr, in dem Moment, in dem die Fotografie ihre soziale Bedeutung verliert, wird sie zum Medium der Kunst. Als Informationsmedium hat sie im Vergleich zum Fernsehen kaum noch Bedeutung. Die Bilder versprechen, dass man die Dinge versteht. Den heutigen Documenta- und auch den Biennale-Machern werfe ich vor, dass sie wieder an die Wahrheit der Fotografie glauben. Aber man kann sogar hier erkennen, dass inszeniert wird, auch wenn es sich tatsächlich so zugetragen hat, wie es auf dem Bild erscheint. Das ist nicht die Wahrheit, sondern ihre Wahrnehmung durch den Fotografen. Doch das Problem dieser Kunst ist: Die Realität überholt sie permanent.

© Klaus Honnef

Präzisionsmalerei. Das Kunstmuseum Bern widmet dem Fotorealisten Franz Gertsch eine prachtvolle Retrospektive (2006)

Die Welt, 17. Januar 2006

Eugène Delacroix, der große Maler, hat sich zum künstlerischen Wert der Fotografie eher abwehrend geäußert. Gleichwohl scheute er sich nicht, fotografische Bilder als Vorlagen zu verwenden. Wie er handelten damals viele. Da solches Tun mit dem noch ungebrochenen Image des Genies schwer vereinbar war, machte aber niemand Aufhebens davon. Gegen den künstlerischen Anspruch der Fotografie, focht man sogar Prozesse vor Gericht aus. Das Verhältnis zwischen Kunst und Fotografie war gespannt, ehe es dem technischen Medium gelang, flächendeckend ästhetische Anerkennung zu erlangen. Dabei waren es ausgebildete Künstler wie Daguerre, LeGray, Nadar, Hill oder Fenton gewesen, die schon früh die Seiten wechselten. Doch sie waren Gebrauchskünstler, denen der Kunstbetrieb ihrer Zeit nur einen niederen Rang in der künstlerischen Hierarchie zubilligte.

Es dauerte fast hundert Jahre, bis die Maler das technische Medium nicht mehr als Konkurrenz betrachteten, sondern als mögliches Thema. Allerdings bedachten sie die ästhetisch ambitionierte Fotografie nach wie vor mit Ignoranz oder Verachtung. Die fotografische Reklame dagegen erregte ihr Interesse. In den „angewandten Künsten“ wie Werbung oder Comic groß geworden, entdeckten sie den visuellen „Jargon der Straße“, wie es damals hieß. Unter dem schlagkräftigen Etikett „Pop Art“ revolutionierten sie die Kunst, indem sie das Oben der Bilderwelt nach unten und das Unten nach Oben kehrten. Damit verwischten sie gleichzeitig die zuvor sorgsam abgeschirmten Grenzen zu den kommerziellen Künsten wie Reklame, Kino, Mode, illustrierte Zeitschriften. Der mächtige amerikanische Kritiker Clement Greenberg, Gralshüter eines elitären Kunstbegriffs, hatte diese mit dem deutschen Wort „Kitsch“ gebrandmarkt, und den wohlwollenden Beifall der meisten Sachwalter der Kunst geerntet. Die Fotografie, in bewegter oder nicht-bewegter Form, war das bevorzugte Medium der kommerziellen Künste.

Von den Pop-Malern inspiriert, wandte eine Reihe von kaum jüngeren Künstlern in den USA, und unabhängig in Europa, ihre besondere Aufmerksamkeit nicht seinen Bildern, sondern dem fotografischen Medium selbst zu. Vermutlich in der pragmatischen Einsicht, dass der Markt der populären Bilder bereits aufgeteilt war. Wie ihre Vorläufer suchten sie nach einer Phase der Vorherrschaft abstrakter Tendenzen das namentlich in der Theorie preisgegebene Terrain der sichtbaren Welt für die Kunst zurückzuerobern. Doch sie wussten, dass es weder einen Weg zur akademischen Malerei des 19. Jahrhunderts noch einen zur vermeintlich korrekten, „realistischen“ Abbildung der Alltagsrealität zurück gab. Die veränderten, wissenschaftlich zudem untermauerten Vorstellungen vom Sehen, hatten seit Cézanne und dem Impressionismus auch die Kunst erfasst, und die experimentell bewiesene Subjektivität der menschlichen Wahrnehmung in eine Subjektivität der anschaulichen Wiedergabe überführt. Die weit verbreitete Ansicht, die Fotografie vergegenwärtige das Profil der Realität objektiv, schien sich gegen derlei Erkenntnis allerdings zu sperren. Deshalb galt die Aufmerksamkeit der Maler, die später als Foto- oder Hyperrealisten bekannt wurden, auch den spezifisch medialen Eigenschaften der Fotografie. In ihren großformatigen Gemälden offenbarte sich die Fotografie als eine visuelle Konstruktion der realen Welt.

Nach einigen spektakulären Ausstellungen in den USA bot die legendäre documenta 5 anno 1972 in Kassel den fotografischen Versionen der Malerei eine Bühne mit weltweiter Ausstrahlung. Einerseits verzweifelt auf der Spur des Allerneusten in der Kunst, konnte die Superschau die Bilder andererseits als eine Antwort auf „die Befragung der Realität“ präsentieren, die sie laut Untertitel anstellen wollte. Da der ursprüngliche Plan, sämtliche Varianten „realistischer“ Verfahren in der Kunst aufzufächern, an der normativen Kraft des Faktischen scheiterte, schuf Kurator Jean Christophe Ammann ihnen mit Bildern von Johns, Artschwager, Thiebaud, Morley, Baselitz (!) und Richter einen brüchigen Theorierahmen und führte gleich sechs „allgemeinverbindliche“ Kriterien für einen „Fotografischen Realismus“ auf. Darunter die Forderung, dass der „Bildgegenstand (...) entsprechend der Vorlage präzis wiedergegeben“ werde. Doch die Gemälde von Charles (später „Chuc“) Close, Richard Estes, Franz Gertsch, Jean-Olivier Hucleux, Richard McLean, Ben Schonzeit e tutti quanti mit meist banalen Motiven übertrumpften in punkto Farbkraft, Lichtintensität, grafischer Präzision und anonymer Sachlichkeit jede fotografische Aufnahme in allen Belangen. Handgemalt, doch technisch perfekt.

Entsprechend überwältigend war der Erfolg. Während alles, was der documenta 5 am Ende den legendären Ruf bescherte, fast unisono negativ aufgenommen wurde, galt die Sektion „Realismus“ dank der Gemälde im Darstellungsmodus der Fotografie als Glanzstück. Mit der Konsequenz, dass ihre Preise in die Höhe schossen. Der Kunstbetrieb verzeichnete seinen ersten „Hype“. Aber dem rasanten Aufstieg, folgte binnen kurzer Zeit der noch raschere Abstieg. Die meisten Künstlernamen sind vergessen, und ihre Bilder fristen seither fast ausnahmslos ein tristes Dasein in den Magazinen der öffentlichen und privaten Sammler.

Eine prachtvolle Retrospektive des Werkes von Franz Gertsch, vom Kunstmuseum Bern und Museum Franz Gertsch in Burgdorf gemeinsam realisiert, die im Laufe des Jahres auch nach Aachen und Tübingen zieht, ruft eine Episode der zeitgenössischen Kunst in Erinnerung, deren Bedeutung inzwischen jedoch völlig unterschätzt wird. Zwar hat sich der Schweizer Maler, außer Close und mit Abstrichen Estes, eindrucksvoll zu behaupten vermocht. Seine imposanten Gemälde bezeugen nicht nur künstlerische Souveränität und vollendetes Handwerk. Sie beschwören zugleich den Geist einer Zeit und Kultur, die im Nachhinein auch denen exotisch erscheint, die sie erlebt haben. Aber es war das ästhetische Phänomen des Foto- oder Hyperrealismus insgesamt, das der Fotografie die Tür in die europäischen Kunstmuseen geöffnet hat. Denn die Maler der fotografischen Bilder bereiteten dem technischen Medium erst den Boden, als sie es zum Gegenstand ästhetischer Reflexion erkoren. Nur fünf Jahre nach dem fulminanten Auftritt ersetzte die sogenannte „Medien-documenta“ ihre Bilder sozusagen durch die fotografischen Vorlagen, und lediglich Close blieb übrig. Als dann noch der technische Fortschritt in den 1980er Jahren die Herstellung riesiger Papierformate erlaubte und mit Diasec die geeignete Drucktechnik verfügbar war, feierten viele das riesige fotografische Format als Aufbruch in eine neue ästhetische Dimension der Kunst. Als hätte es die „foto-realistischen“ Gemälde nie gegeben. Deren Raffinesse und handwerklicher Perfektion hatten nicht einmal ihre Verächter die Bewunderung versagt.

© Klaus Honnef

Sehen lernen im Krieg: Jürgen Schreibers Monographie über den Maler Gerhard Richter (2005)

Die Welt, 29. August 2005

Bilder sind vieldeutig. Nicht wenige teilen etwas mit und behaupten zugleich das Gegenteil. Sie können verführen und abschrecken. Sie verändern sich je nach Interesse ihrer Betrachter, auch wenn sie sich äußerlich gleich bleiben. Die Einsicht ist so banal, dass sie sprichwörtlich geworden ist: Ein Bild erzählt mehr als tausend Worte. Als Zeugen taugen sie nur bedingt. Und dennoch traut man ihnen. Bildern gehöre unser Glauben, war der Filmtheoretiker André Bazin überzeugt. Zumal die Fotografie mit ihrem mechanischen Abbildverfahren für scheinbare Objektivität gesorgt hat. Dabei weiß jeder, dass Bilder lügen.

Andererseits haben sie nur für eine kurze Phase ihrer Geschichte den Anspruch erhoben, die Dinge zu zeigen, wie sie angeblich sind, selbst wenn ihr jeweiliger Betrachter nicht existierte. Meist zeigten sie die Dinge, wie sie sein könnten – oder sein würden, falls es diejenigen, an die sie adressiert waren, an nötigem Wohlverhalten fehlen ließen. Bis in die jüngste Zeit standen sie in Diensten höherer Mächte, und die meisten tun es unvermindert noch. Lediglich ein winziger Zweig der massenhaften Produktion von Bildern hat für sich eine gewisse Unabhängigkeit erstritten. Auf sie wendet man den Begriff „Kunst“ an.

Doch gerade die Bilder der Kunst entpuppen sich häufig als besonders vieldeutig. Es zählt seit jeher zu den reizvollen Aufgaben der Kunstwissenschaft herauszufinden, was dieser oder jener Gegenstand auf der Bildfläche „in Wahrheit“ bedeutet. Ist eine brennende Kerze bloß eine brennende Kerze oder das Zeichen für die Endlichkeit allen Lebens? Die Stillleben der Holländer des 17. Jahrhunderts wimmeln von Gegenständen mit schillernder Bedeutung. Auch Gerhard Richter, der bekannteste deutsche Maler der Gegenwart und, wie selten vergessen wird zu erwähnen, der teuerste, hat Kerzen gemalt. Weit über ein Dutzend, in unterschiedlichen Formaten, und eine mit einem Totenschädel kombiniert. Wie im Falle der Holländer sind sich die Fachleute über deren tatsächliche Bedeutung uneins. Angesichts dieser und einer Reihe anderer, unmittelbar Tod und Verderben beschwörender Gemälde aber zu schließen, sein „Oeuvre lässt einen von Besorgnis und Furcht besetzten, früh um Sicherheit betrogenen Skeptiker erahnen“, ist zumindest fragwürdig. Gleichwohl gründet der Journalist Jürgen Schreiber in seinem Buch mit dem raunenden und anspielungsreichen Titel „Ein Maler aus Deutschland“ und dem sensationsheischenden Zusatz „Gerhard Richter – Das Drama einer Familie“ seine These auf der Behauptung, der Krieg sei „Richters Schule des Sehens“ und der Tod der geheime Sponsor seines Werkes.

Als Kronzeugen zitiert er zwei Gemälde aus den Anfangsjahren der künstlerischen Karriere des Malers, der kurz zuvor mit seiner Frau Emma aus der DDR in den Westen geflohen war. Das eine heißt „Familie am Meer“ (1964), das andere „Tante Marianne“ (1965). Auf dem ersten ist zu sehen, was der Titel verheißt: eine Vierergruppe in Badezeug. Das Quartett beugt sich lachend aus dem Rahmen den Betrachtern zu. Offensichtlich gab ein Ferienfoto die Vorlage. Anlage und Farbgebung des Gemäldes betonen die fotografische Herkunft ausdrücklich. Für das zweite Bild gilt das gleiche. Sein Titel indes birgt ein Rätsel: Die angesprochene Tante erweist sich als ein Mädchen.

Mit solchen und ähnlichen Gemälden hat sich Richter einen bald schon über die Grenzen seines Landes hinaus strahlenden Ruf ermalt. Der Kritiker Lawrence Alloway apostrophierte ihn schon damals als „heute Europas größten Maler“.

Die ins Auge fallende Belanglosigkeit seiner Bildmotive, gemessen jedenfalls an den Themen der alten Kunst, aufgeklaubt aus privaten Fotoalben, Zeitungen, Pornos, sowie die Art und Weise, sie in Malerei zu verwandeln, erregten rasch die Aufmerksamkeit der Insider des Kunstgeschehens, der Kunsthändler und Kritiker. Die Pop Art hatte den Blick geschärft. Auch Richter war davon beeindruckt. Vor allem bestach an seinen Gemälden der scheinbar nonchalante, in Wirklichkeit raffinierte, mal grobe, mal delikate Farbauftrag in allen Nuancen der Unfarbe Grau. Sie adelte er zur Farbe.
Die Frage, ob die benutzten Amateuraufnahmen aus Richters privatem Umkreis stammten oder nicht, interessierte seinerzeit kaum. Der Maler schwieg darüber. „Ich wollte doch, dass man die Bilder sieht und nicht den Maler und seine Verwandten, da wäre ich doch abgestempelt, vorschnell erklärt worden“, rechtfertigte er seine Haltung kürzlich in einem Interview mit dem „Spiegel“. Zumal seine spezifische Technik dem Wunsch entsprang, die Malerei mit der „Objektivität“ auszustatten, die er der Fotografie zubilligte. Was eine Absage an die übersteigerte Subjektivität des künstlerischen Genies einschloss. Wäre bekannt geworden, dass „Tante Marianne“, die das Gemälde und seine Vorlage gemeinsam mit der Person des Malers als Säugling vergegenwärtigt, eines der 250 000 Opfer der NS-Euthanasie wurde, und das Oberhaupt der „Familie am Meer“, der geachtete Professor Eufinger, tief verwickelt in das Mordprogramm und Richters Schwiegervater war, hätte sich die Sicht auf sein künstlerisches Werk mutmaßlich zugunsten falscher Eindeutigkeit verschoben.

Jürgen Schreiber nun nimmt den in Dresden geborenen Maler wie die Leser seines Buches mit auf eine bedrückende Reise in das Sachsen des Dritten Reiches. Er schlägt das finsterste Kapitel in dessen Geschichte auf. Noch einmal begegnen sich Opfer und Täter. Die Täter: eine Ansammlung unappetitlicher Charaktere, eitler Karrieristen, gewissenloser Opportunisten, hier fast ausschließlich Ärzte; Akademiker also, die es besser hätten wissen müssen. Frech gerierten sich die meisten hinterher ihrerseits als Opfer. Gerne führten sie die „humanistische Bildung“ spazieren, und ich erinnere mich an den Ekel, den meine Generation gegen jegliche Bildungsbürgerei in der Zeit seines künstlerischen Aufstiegs empfand. Die Opfer: Menschen, die nicht ins Trugbild bürgerlicher „Normalität“ passten, sensible, kranke, geistig und körperlich Behinderte, die ihre Ärzte systematisch zu Tode brachten, den sie später als „Erlösung“ darstellten.

Die Fakten, die Schreibers Recherche ans Licht förderte, sind grauenvoll. Aber verändern sie wirklich die Sicht auf das Werk des Malers? Ist „Tante Marianne“ gar ein Schlüsselbild? In der ersten offiziellen Bildliste, einer Publikation anlässlich einer Ausstellung des Aachener Kunstvereins, die ich dem Künstler 1969 widmete, fehlt das Gemälde. Hat er es übersehen? Erst in einer später revidierten Fassung des Katalogs wird es unter Nummer 87 aufgeführt. Augenscheinlich hat der Maler es nicht für wichtiger gehalten als ein Gemälde mit Sargträgern oder ein Hitler-Porträt, die er zunächst auch nicht berücksichtigte.

Gewiss, sämtliche Bilder Richters besitzen eine inhaltliche Zuspitzung, auch die abstrakten. Doch die zielt auf das Exemplarische eher als auf das Spezifische. Insofern ist Richter nicht nur „ein Maler aus Deutschland“, sondern ein deutscher Maler. „Tante Marianne“ und „Familie am Meer“ oder „Onkel Rudi“ in Uniform und „Horst mit Hund“ in fortgeschrittener Trunkenheit, letztere direkte und indirekte Opfer des von den Nazis angezettelten Krieges, sind die Namenlosen der Geschichte. Richter hat Tätern und Opfern in seiner charakteristischen Malweise des Verwischens ein Gesicht verliehen, und keinem ist verwehrt, sie im eigenen Umkreis zu suchen. Gleichwohl gilt für seine Gemälde, was Rene Magritte unter die Abbildung einer Pfeife schrieb: Dies ist keine Pfeife! Trotz unbestreitbarer Verdienste des oft unnötig ausschweifenden Buches, das mit dem Werk des Malers nur in geringem Maße zu tun hat: Eine neue Perspektive eröffnet es nicht.

© Klaus Honnef