Die Welt, 29. August 2005
Bilder sind vieldeutig. Nicht wenige teilen etwas mit und behaupten zugleich das Gegenteil. Sie können verführen und abschrecken. Sie verändern sich je nach Interesse ihrer Betrachter, auch wenn sie sich äußerlich gleich bleiben. Die Einsicht ist so banal, dass sie sprichwörtlich geworden ist: Ein Bild erzählt mehr als tausend Worte. Als Zeugen taugen sie nur bedingt. Und dennoch traut man ihnen. Bildern gehöre unser Glauben, war der Filmtheoretiker André Bazin überzeugt. Zumal die Fotografie mit ihrem mechanischen Abbildverfahren für scheinbare Objektivität gesorgt hat. Dabei weiß jeder, dass Bilder lügen.
Andererseits haben sie nur für eine kurze Phase ihrer Geschichte den Anspruch erhoben, die Dinge zu zeigen, wie sie angeblich sind, selbst wenn ihr jeweiliger Betrachter nicht existierte. Meist zeigten sie die Dinge, wie sie sein könnten – oder sein würden, falls es diejenigen, an die sie adressiert waren, an nötigem Wohlverhalten fehlen ließen. Bis in die jüngste Zeit standen sie in Diensten höherer Mächte, und die meisten tun es unvermindert noch. Lediglich ein winziger Zweig der massenhaften Produktion von Bildern hat für sich eine gewisse Unabhängigkeit erstritten. Auf sie wendet man den Begriff „Kunst“ an.
Doch gerade die Bilder der Kunst entpuppen sich häufig als besonders vieldeutig. Es zählt seit jeher zu den reizvollen Aufgaben der Kunstwissenschaft herauszufinden, was dieser oder jener Gegenstand auf der Bildfläche „in Wahrheit“ bedeutet. Ist eine brennende Kerze bloß eine brennende Kerze oder das Zeichen für die Endlichkeit allen Lebens? Die Stillleben der Holländer des 17. Jahrhunderts wimmeln von Gegenständen mit schillernder Bedeutung. Auch Gerhard Richter, der bekannteste deutsche Maler der Gegenwart und, wie selten vergessen wird zu erwähnen, der teuerste, hat Kerzen gemalt. Weit über ein Dutzend, in unterschiedlichen Formaten, und eine mit einem Totenschädel kombiniert. Wie im Falle der Holländer sind sich die Fachleute über deren tatsächliche Bedeutung uneins. Angesichts dieser und einer Reihe anderer, unmittelbar Tod und Verderben beschwörender Gemälde aber zu schließen, sein „Oeuvre lässt einen von Besorgnis und Furcht besetzten, früh um Sicherheit betrogenen Skeptiker erahnen“, ist zumindest fragwürdig. Gleichwohl gründet der Journalist Jürgen Schreiber in seinem Buch mit dem raunenden und anspielungsreichen Titel „Ein Maler aus Deutschland“ und dem sensationsheischenden Zusatz „Gerhard Richter – Das Drama einer Familie“ seine These auf der Behauptung, der Krieg sei „Richters Schule des Sehens“ und der Tod der geheime Sponsor seines Werkes.
Als Kronzeugen zitiert er zwei Gemälde aus den Anfangsjahren der künstlerischen Karriere des Malers, der kurz zuvor mit seiner Frau Emma aus der DDR in den Westen geflohen war. Das eine heißt „Familie am Meer“ (1964), das andere „Tante Marianne“ (1965). Auf dem ersten ist zu sehen, was der Titel verheißt: eine Vierergruppe in Badezeug. Das Quartett beugt sich lachend aus dem Rahmen den Betrachtern zu. Offensichtlich gab ein Ferienfoto die Vorlage. Anlage und Farbgebung des Gemäldes betonen die fotografische Herkunft ausdrücklich. Für das zweite Bild gilt das gleiche. Sein Titel indes birgt ein Rätsel: Die angesprochene Tante erweist sich als ein Mädchen.
Mit solchen und ähnlichen Gemälden hat sich Richter einen bald schon über die Grenzen seines Landes hinaus strahlenden Ruf ermalt. Der Kritiker Lawrence Alloway apostrophierte ihn schon damals als „heute Europas größten Maler“.
Die ins Auge fallende Belanglosigkeit seiner Bildmotive, gemessen jedenfalls an den Themen der alten Kunst, aufgeklaubt aus privaten Fotoalben, Zeitungen, Pornos, sowie die Art und Weise, sie in Malerei zu verwandeln, erregten rasch die Aufmerksamkeit der Insider des Kunstgeschehens, der Kunsthändler und Kritiker. Die Pop Art hatte den Blick geschärft. Auch Richter war davon beeindruckt. Vor allem bestach an seinen Gemälden der scheinbar nonchalante, in Wirklichkeit raffinierte, mal grobe, mal delikate Farbauftrag in allen Nuancen der Unfarbe Grau. Sie adelte er zur Farbe.
Die Frage, ob die benutzten Amateuraufnahmen aus Richters privatem Umkreis stammten oder nicht, interessierte seinerzeit kaum. Der Maler schwieg darüber. „Ich wollte doch, dass man die Bilder sieht und nicht den Maler und seine Verwandten, da wäre ich doch abgestempelt, vorschnell erklärt worden“, rechtfertigte er seine Haltung kürzlich in einem Interview mit dem „Spiegel“. Zumal seine spezifische Technik dem Wunsch entsprang, die Malerei mit der „Objektivität“ auszustatten, die er der Fotografie zubilligte. Was eine Absage an die übersteigerte Subjektivität des künstlerischen Genies einschloss. Wäre bekannt geworden, dass „Tante Marianne“, die das Gemälde und seine Vorlage gemeinsam mit der Person des Malers als Säugling vergegenwärtigt, eines der 250 000 Opfer der NS-Euthanasie wurde, und das Oberhaupt der „Familie am Meer“, der geachtete Professor Eufinger, tief verwickelt in das Mordprogramm und Richters Schwiegervater war, hätte sich die Sicht auf sein künstlerisches Werk mutmaßlich zugunsten falscher Eindeutigkeit verschoben.
Jürgen Schreiber nun nimmt den in Dresden geborenen Maler wie die Leser seines Buches mit auf eine bedrückende Reise in das Sachsen des Dritten Reiches. Er schlägt das finsterste Kapitel in dessen Geschichte auf. Noch einmal begegnen sich Opfer und Täter. Die Täter: eine Ansammlung unappetitlicher Charaktere, eitler Karrieristen, gewissenloser Opportunisten, hier fast ausschließlich Ärzte; Akademiker also, die es besser hätten wissen müssen. Frech gerierten sich die meisten hinterher ihrerseits als Opfer. Gerne führten sie die „humanistische Bildung“ spazieren, und ich erinnere mich an den Ekel, den meine Generation gegen jegliche Bildungsbürgerei in der Zeit seines künstlerischen Aufstiegs empfand. Die Opfer: Menschen, die nicht ins Trugbild bürgerlicher „Normalität“ passten, sensible, kranke, geistig und körperlich Behinderte, die ihre Ärzte systematisch zu Tode brachten, den sie später als „Erlösung“ darstellten.
Die Fakten, die Schreibers Recherche ans Licht förderte, sind grauenvoll. Aber verändern sie wirklich die Sicht auf das Werk des Malers? Ist „Tante Marianne“ gar ein Schlüsselbild? In der ersten offiziellen Bildliste, einer Publikation anlässlich einer Ausstellung des Aachener Kunstvereins, die ich dem Künstler 1969 widmete, fehlt das Gemälde. Hat er es übersehen? Erst in einer später revidierten Fassung des Katalogs wird es unter Nummer 87 aufgeführt. Augenscheinlich hat der Maler es nicht für wichtiger gehalten als ein Gemälde mit Sargträgern oder ein Hitler-Porträt, die er zunächst auch nicht berücksichtigte.
Gewiss, sämtliche Bilder Richters besitzen eine inhaltliche Zuspitzung, auch die abstrakten. Doch die zielt auf das Exemplarische eher als auf das Spezifische. Insofern ist Richter nicht nur „ein Maler aus Deutschland“, sondern ein deutscher Maler. „Tante Marianne“ und „Familie am Meer“ oder „Onkel Rudi“ in Uniform und „Horst mit Hund“ in fortgeschrittener Trunkenheit, letztere direkte und indirekte Opfer des von den Nazis angezettelten Krieges, sind die Namenlosen der Geschichte. Richter hat Tätern und Opfern in seiner charakteristischen Malweise des Verwischens ein Gesicht verliehen, und keinem ist verwehrt, sie im eigenen Umkreis zu suchen. Gleichwohl gilt für seine Gemälde, was Rene Magritte unter die Abbildung einer Pfeife schrieb: Dies ist keine Pfeife! Trotz unbestreitbarer Verdienste des oft unnötig ausschweifenden Buches, das mit dem Werk des Malers nur in geringem Maße zu tun hat: Eine neue Perspektive eröffnet es nicht.
© Klaus Honnef