Die Welt, 17. Januar 2006
Eugène Delacroix, der große Maler, hat sich zum künstlerischen Wert der Fotografie eher abwehrend geäußert. Gleichwohl scheute er sich nicht, fotografische Bilder als Vorlagen zu verwenden. Wie er handelten damals viele. Da solches Tun mit dem noch ungebrochenen Image des Genies schwer vereinbar war, machte aber niemand Aufhebens davon. Gegen den künstlerischen Anspruch der Fotografie, focht man sogar Prozesse vor Gericht aus. Das Verhältnis zwischen Kunst und Fotografie war gespannt, ehe es dem technischen Medium gelang, flächendeckend ästhetische Anerkennung zu erlangen. Dabei waren es ausgebildete Künstler wie Daguerre, LeGray, Nadar, Hill oder Fenton gewesen, die schon früh die Seiten wechselten. Doch sie waren Gebrauchskünstler, denen der Kunstbetrieb ihrer Zeit nur einen niederen Rang in der künstlerischen Hierarchie zubilligte.
Es dauerte fast hundert Jahre, bis die Maler das technische Medium nicht mehr als Konkurrenz betrachteten, sondern als mögliches Thema. Allerdings bedachten sie die ästhetisch ambitionierte Fotografie nach wie vor mit Ignoranz oder Verachtung. Die fotografische Reklame dagegen erregte ihr Interesse. In den „angewandten Künsten“ wie Werbung oder Comic groß geworden, entdeckten sie den visuellen „Jargon der Straße“, wie es damals hieß. Unter dem schlagkräftigen Etikett „Pop Art“ revolutionierten sie die Kunst, indem sie das Oben der Bilderwelt nach unten und das Unten nach Oben kehrten. Damit verwischten sie gleichzeitig die zuvor sorgsam abgeschirmten Grenzen zu den kommerziellen Künsten wie Reklame, Kino, Mode, illustrierte Zeitschriften. Der mächtige amerikanische Kritiker Clement Greenberg, Gralshüter eines elitären Kunstbegriffs, hatte diese mit dem deutschen Wort „Kitsch“ gebrandmarkt, und den wohlwollenden Beifall der meisten Sachwalter der Kunst geerntet. Die Fotografie, in bewegter oder nicht-bewegter Form, war das bevorzugte Medium der kommerziellen Künste.
Von den Pop-Malern inspiriert, wandte eine Reihe von kaum jüngeren Künstlern in den USA, und unabhängig in Europa, ihre besondere Aufmerksamkeit nicht seinen Bildern, sondern dem fotografischen Medium selbst zu. Vermutlich in der pragmatischen Einsicht, dass der Markt der populären Bilder bereits aufgeteilt war. Wie ihre Vorläufer suchten sie nach einer Phase der Vorherrschaft abstrakter Tendenzen das namentlich in der Theorie preisgegebene Terrain der sichtbaren Welt für die Kunst zurückzuerobern. Doch sie wussten, dass es weder einen Weg zur akademischen Malerei des 19. Jahrhunderts noch einen zur vermeintlich korrekten, „realistischen“ Abbildung der Alltagsrealität zurück gab. Die veränderten, wissenschaftlich zudem untermauerten Vorstellungen vom Sehen, hatten seit Cézanne und dem Impressionismus auch die Kunst erfasst, und die experimentell bewiesene Subjektivität der menschlichen Wahrnehmung in eine Subjektivität der anschaulichen Wiedergabe überführt. Die weit verbreitete Ansicht, die Fotografie vergegenwärtige das Profil der Realität objektiv, schien sich gegen derlei Erkenntnis allerdings zu sperren. Deshalb galt die Aufmerksamkeit der Maler, die später als Foto- oder Hyperrealisten bekannt wurden, auch den spezifisch medialen Eigenschaften der Fotografie. In ihren großformatigen Gemälden offenbarte sich die Fotografie als eine visuelle Konstruktion der realen Welt.
Nach einigen spektakulären Ausstellungen in den USA bot die legendäre documenta 5 anno 1972 in Kassel den fotografischen Versionen der Malerei eine Bühne mit weltweiter Ausstrahlung. Einerseits verzweifelt auf der Spur des Allerneusten in der Kunst, konnte die Superschau die Bilder andererseits als eine Antwort auf „die Befragung der Realität“ präsentieren, die sie laut Untertitel anstellen wollte. Da der ursprüngliche Plan, sämtliche Varianten „realistischer“ Verfahren in der Kunst aufzufächern, an der normativen Kraft des Faktischen scheiterte, schuf Kurator Jean Christophe Ammann ihnen mit Bildern von Johns, Artschwager, Thiebaud, Morley, Baselitz (!) und Richter einen brüchigen Theorierahmen und führte gleich sechs „allgemeinverbindliche“ Kriterien für einen „Fotografischen Realismus“ auf. Darunter die Forderung, dass der „Bildgegenstand (...) entsprechend der Vorlage präzis wiedergegeben“ werde. Doch die Gemälde von Charles (später „Chuc“) Close, Richard Estes, Franz Gertsch, Jean-Olivier Hucleux, Richard McLean, Ben Schonzeit e tutti quanti mit meist banalen Motiven übertrumpften in punkto Farbkraft, Lichtintensität, grafischer Präzision und anonymer Sachlichkeit jede fotografische Aufnahme in allen Belangen. Handgemalt, doch technisch perfekt.
Entsprechend überwältigend war der Erfolg. Während alles, was der documenta 5 am Ende den legendären Ruf bescherte, fast unisono negativ aufgenommen wurde, galt die Sektion „Realismus“ dank der Gemälde im Darstellungsmodus der Fotografie als Glanzstück. Mit der Konsequenz, dass ihre Preise in die Höhe schossen. Der Kunstbetrieb verzeichnete seinen ersten „Hype“. Aber dem rasanten Aufstieg, folgte binnen kurzer Zeit der noch raschere Abstieg. Die meisten Künstlernamen sind vergessen, und ihre Bilder fristen seither fast ausnahmslos ein tristes Dasein in den Magazinen der öffentlichen und privaten Sammler.
Eine prachtvolle Retrospektive des Werkes von Franz Gertsch, vom Kunstmuseum Bern und Museum Franz Gertsch in Burgdorf gemeinsam realisiert, die im Laufe des Jahres auch nach Aachen und Tübingen zieht, ruft eine Episode der zeitgenössischen Kunst in Erinnerung, deren Bedeutung inzwischen jedoch völlig unterschätzt wird. Zwar hat sich der Schweizer Maler, außer Close und mit Abstrichen Estes, eindrucksvoll zu behaupten vermocht. Seine imposanten Gemälde bezeugen nicht nur künstlerische Souveränität und vollendetes Handwerk. Sie beschwören zugleich den Geist einer Zeit und Kultur, die im Nachhinein auch denen exotisch erscheint, die sie erlebt haben. Aber es war das ästhetische Phänomen des Foto- oder Hyperrealismus insgesamt, das der Fotografie die Tür in die europäischen Kunstmuseen geöffnet hat. Denn die Maler der fotografischen Bilder bereiteten dem technischen Medium erst den Boden, als sie es zum Gegenstand ästhetischer Reflexion erkoren. Nur fünf Jahre nach dem fulminanten Auftritt ersetzte die sogenannte „Medien-documenta“ ihre Bilder sozusagen durch die fotografischen Vorlagen, und lediglich Close blieb übrig. Als dann noch der technische Fortschritt in den 1980er Jahren die Herstellung riesiger Papierformate erlaubte und mit Diasec die geeignete Drucktechnik verfügbar war, feierten viele das riesige fotografische Format als Aufbruch in eine neue ästhetische Dimension der Kunst. Als hätte es die „foto-realistischen“ Gemälde nie gegeben. Deren Raffinesse und handwerklicher Perfektion hatten nicht einmal ihre Verächter die Bewunderung versagt.
© Klaus Honnef