Klaus Honnef. Der internationale Ausstellungsmacher über die Mechanismen des Marktes und die Fehler der Kasseler Schau
Interview mit dem Rheinischen Merkur, Nr. 27, 21. Juni 2007 (Das Gespräch führten Hans-Joachim Neubauer und Wolf Schön)
Rheinischer Merkur: Gefällt Ihnen die Documenta 12?
Klaus Honnef: Das ist die langweiligste Documenta, die ich je gesehen habe, und im ästhetischen wie intellektuellen Anspruch die schlichteste. Es ist mir schleierhaft, wie man so viel schlechte Kunst zusammenbekommen kann. Ich muss die Präsentation und die Kunstwerke in der Neuen Galerie ausnehmen, die haben das desaströse Bild etwas aufgehellt.
RM: Was ist der Grund für das Debakel?
Honnef: Die Frage nach der Moderne ist immerhin eine künstlerisch-ästhetische Frage. Die Moderne hat mit der Zeit der Avantgarde ja eine spezifische Haltung hervorgebracht. Die hochinteressante Frage aber, ob die Moderne unsere Antike ist, wird überhaupt nicht beantwortet. Wer glaubt, dass das, was hier gezeigt wird, die Moderne sei, muss auf einem anderen Planeten gelebt haben, auf dem er von der Moderne nichts mitbekam. Die Kuratoren hier argumentieren nicht von der Kunst her. Sie haben sich, scheint mir, wieder einmal etwas ausgedacht, um ihre Thesen zu illustrieren.
RM: „Was ist das bloße Leben?“, lautet eine der Documenta-Fragen. Ist das nicht kunstfremd?
Honnef: Die Frage nach dem bloßen Leben finde ich einfach falsch gestellt. Die Kunst ist etwas anderes als das bloße Leben. Auch wenn man sie unter einem historischen Blickwinkel sieht, ist Kunst immer etwas Gesetztes, nie etwas Daseiendes, einfach Vorhandenes.
RM: Mit ihren vielfach unbekannten Künstlern scheint die Ausstellung gegen den Markt zu protestieren. Welche Rolle spielt das?
Honnef: Das Ganze ist von einer ergreifenden Schlichtheit, denn um antikommerzielle Kunst zu finden, braucht man nur in die Ateliers der lokalen Künstler hier in Kassel oder in jeder anderen Stadt zu gehen. Da findet man unverkäufliche Kunst. Mir ist das alles viel zu simpel.
RM: Kann der Markt nicht auch irren?
Honnef: Im Prinzip hat der Markt noch nie geirrt. Wenn man historisch denkt und auch die Hintergründe betrachtet – etwa die Renaissancekunst oder die Kunst des holländischen Bürgertums und ihre kulturellen und gesellschaftlichen Mechanismen –‚ hat sich da nicht viel geändert. Geändert hat sich, dass heute eine andere Klientel Kunst kauft, mit einem anderen sozialen Hintergrund, eine Klientel, die sicherlich ungebildeter ist als früher. Geändert hat sich auch, dass Kunst generell nicht mehr die Ansprüche stellt, die, sagen wir, ein Rembrandt oder ein Tizian oder ein Michelangelo gestellt haben. So hat jede Kunst ihre eigene Zeit.
RM: Welche hat die heutige?
Honnef: Wir leben in einer hochkapitalistischen Zeit, die von Marktgesetzen bestimmt wird. Da kann man dann, wie es der Kunsthistoriker Erwin Panofsky schon vor Jahrzehnten getan hat, zwischen kommerzieller Kunst und nichtkommerzieller Kunst differenzieren. Auch das hat es immer gegeben, und so ist das heute auch. In Hollywood finden Sie heute genauso eine kritische Kunst wie unerträglich kommerzielles Zeugs.
RM: Einige Räume dieser Documenta sind stark ornamental angelegt – Trend oder ein Zufall?
Honnef: Das ist kein Zufall. Das hängt auch damit zusammen, dass man die sogenannte „Migration der Formen“ darstellen will, ein hilflos wirkender Versuch, die Kunst anderer Kulturen zu präsentieren! Was andere Kulturen als Kunst betrachten oder nicht, sollte man nicht aus einer kolonialistischen Perspektive betrachten! Wenn man die auf die westlichen Plattformen holen und ihr Wirken hier nachweisen will, kommt man um etwas Ornamentales nicht herum.
RM: Ist nicht auch unsere Kunst ornamental?
Honnef: Ganze Kulturen sind ornamental geprägt. Aber auch in Europa ist die ornamentale Kultur nie verschwunden. Der Abstraktionismus, die prononcierteste Haltung in der Moderne, hat ja immer wieder ornamentale Züge. Wenn man die ganze zeitgenössische Kunst etwas bösartig betrachtet, muss man attestieren, dass sie bloße Dekoration ist. Wenn ich mir ein Bild in mein Wohnzimmer hänge, erfüllt es irgendwie auch dekorative Zwecke.
RM: Die Documenta will ja pädagogisch wirken. Glauben Sie, dass sich das Publikum ästhetisch erziehen lässt?
Honnef: Ich finde das zynisch, damit will man ja nur sein schlechtes Gewissen entlasten. Man könnte ja als Sozialarbeiter nach Afrika und sonst wo hin gehen, um zu helfen. Wenn man das hier an die Wand hängt und dazu auffordert, die Welt zu verändern, halte ich das für vordergründig. Die Documenta wendet sich ja primär an ein Kunstpublikum. Wer sich nur für Fußball und Kegeln interessiert, wogegen ich gar nichts sagen will, geht nicht auf die Documenta. Das Kunstpublikum liest Zeitung, guckt Fernsehen und ist über die Zustände der Welt mehr oder minder informiert. Es hat offenbar kein großes Interesse daran, die Welt zu verändern. So verpufft dieses Edukative. Für mich ist das eine zynische Haltung, weil das Niveau gesenkt wird; um wirkungsvoll zu agitieren, muss man ein möglichst niedriges Niveau ansprechen. Man hält das Publikum für dumm. Intelligente Leute können nicht so dumm sein, dass sie nicht wissen, dass diese Welt nicht in Ordnung ist. Hinzu kommt: Die Generalsprache ist Englisch, alles ist hochkompliziert formuliert. Und drittens müsste man, um alles zu lesen, tagelang in Kassel bleiben, und das glaubt wohl nicht mal das Werbeamt der Stadt, dass das jemand tut.
RM: Die Documenta hat ja als Weltausstellung der Besten angefangen, als eine Art Leistungsschau, dann hat sie sich zur Kuratorenselbstdarstellung gewandelt. Jetzt ist sie völlig bewegungsunfähig geworden. Wie kann die Zukunft der Documenta aussehen?
Honnef: Vielleicht sollte man sich mal wieder um die Kunst kümmern und darum, was die Künstler denken. Die kommerzielle Kunst ist ja auch für Künstler eine Herausforderung. Wenn Sie als junger Künstler sofort entdeckt werden, kommen die Pressionen des Marktes, und Sie werden förmlich ausgelutscht und weggeworfen. Wie viele junge Talente hat es, auch auf der Documenta, gegeben, und niemand erinnert sich heute mehr an ihre Namen! Aber wenn man, was Kuratoren müssen, mit offenen Ohren und Augen durch die Welt reist, gibt es genügend Künstler, die zunächst aus dem Denken der Kunst nicht die Welt verändern wollen, sondern die Wahrnehmung der WeIt. Denn das kann Kunst im besten Falle.
RM: Was kann sie verändern?
Honnef: Die Welt jedenfalls nicht! Wir werden durch Massenmedien mit Bildern zugeschüttet und manipuliert, und da gehört es zu den vornehmsten Zwecken der Kunst, dem etwas entgegenzusetzen, was gleichwohl Aufmerksamkeit erzielt. Man muss die Ansprüche nicht niedriger halten, sondern erhöhen. Kunst ist nicht für alle. Es erfordert Anstrengung, die Dinge aufnehmen zu können, sich irritieren zu lassen. Diese Documenta hat ihren Anspruch nicht annähernd eingelöst.
RM: Der ethnografische Blick spielt ja in Kassel dieses Jahr eine große Rolle: 1001 Chinesen, eine Zoogiraffe, nigerianische Fotografen: Sind das Versuche, auf die Globalisierung zu antworten?
Honnef: Vermutlich. Aber das ist doch hilflos! Die Chinesen sind in einem Aufwind, in einer wirtschaftlichen Vorwärtsbewegung nach westlichem Muster begriffen, dass wir in dreißig Jahren in Kassel, Bonn oder Berlin in der Minderheit sein werden, weil die chinesischen Touristen überwiegen. Ein amerikanischer Kulturkritiker hat für Europa die etwas zynische Prognose gestellt, dass wir das Museum der Welt sein werden; das sollten wir auch pflegen, schreibt er. Wir wären dann ein reales Disneyland! Wir werden uns bestaunen lassen: So haben also die Europäer in der Vormoderne und der Moderne gelebt.
RM: Arbeiten die Schwellenländer nicht alle mit Mitteln der Moderne?
Honnef: Ja. Überall triumphiert die Moderne, in China, in Indien: Das sind ja westliche Kulturtechniken. Die Ideen kommen nicht aus den asiatischen, afrikanischen oder islamischen Kulturen. Selbst die Bomben der Islamisten werden nach westlichem Know¬-how zusammengebaut, mit Instruktionen der westlichen Kommunikationsmedien, sodass es vielleicht eine hübsche Geste ist, die chinesischen Bauern vor der Zeit nach Europa zu bringen. Aber was bringt das außer dem Staunen? Es wäre Aufgabe der Documenta, bei dem Publikum, an das sie sich adressiert, Staunen zu erregen, es unsicher zu machen –mit den Mitteln der Kunst, nicht mit denen der Zeitung.
RM: Aktuell ist es so, dass das Medium Fotografie die klassischen Kunstmedien förmlich überrollt, nicht nur auf der Documenta. Hier gibt es kaum noch Malerei zu sehen. Ist dieses Vertrauen auf den fotografischen Realismus nicht naiv?
Honnef: Ja! Es ist bizarr, in dem Moment, in dem die Fotografie ihre soziale Bedeutung verliert, wird sie zum Medium der Kunst. Als Informationsmedium hat sie im Vergleich zum Fernsehen kaum noch Bedeutung. Die Bilder versprechen, dass man die Dinge versteht. Den heutigen Documenta- und auch den Biennale-Machern werfe ich vor, dass sie wieder an die Wahrheit der Fotografie glauben. Aber man kann sogar hier erkennen, dass inszeniert wird, auch wenn es sich tatsächlich so zugetragen hat, wie es auf dem Bild erscheint. Das ist nicht die Wahrheit, sondern ihre Wahrnehmung durch den Fotografen. Doch das Problem dieser Kunst ist: Die Realität überholt sie permanent.
© Klaus Honnef