Tausende Zahlen, aber keine Welt: Der Triumph der digitalen Kamera entfremdet die Fotografie von der Wirklichkeit (2005)

Die Welt, 22. August 2005

Agfa und Leica sind klangvolle Namen und bekannte zudem. Sie zählen zu den Markenzeichen deutscher Industrie. Die Fotografie nicht nur in Deutschland verdankt ihnen entscheidende Impulse. Viele Menschen sprechen sie mit Respekt aus. Selbst Menschen, die sich für das Feld der Ökonomie nur aus dem Blickwinkel ihrer Haushaltskasse interessieren. Die Namen stehen für Erfindergeist, technische Präzision und wirtschaftlichen Erfolg. Doch der eine wie der andere drohen zu verschwinden. Agfa befindet sich in Insolvenz, und Leitz, deren stolzestes Produkt die legendäre Leica ist, in schweren Turbulenzen. Sie hätten die technische Entwicklung verschlafen und zu stur am Altbewährten festgehalten, sagen die Ökonomen. Die nüchterne Feststellung lässt sich schwerlich bestreiten. Dennoch mangelt es ihr am Blick für die tieferen Ursachen.

Die wirklichen Gründe liegen in einer radikalen Veränderung der industriellen Herstellung und Wiedergabe von Bildern. Die Veränderung erstreckt sich auf die Maschinen und die Träger der Bilddaten gleichermaßen. Und sie strahlt über den engeren Bezirk der Technik weit hinaus, weil sie zumindest mittelbar in das fein gewebte Verhältnis der Menschen zu ihrer materiellen Umwelt eingreift und es allmählich, aber nachhaltig verändert.

Der oft strapazierte Begriff der Revolution ist nicht zu hoch gegriffen, um den Tatbestand zu charakterisieren. An Stelle des bislang üblichen Negativfilms, der relativ aufwendig entwickelt werden muss, ehe man zu positiven Bildern gelangt, tritt in immer stärkerem Ausmaß der Computerchip. Doch der Übergang von der analogen zur digitalen Fotografie ist alles andere als ein Übergang in kontinuierlichen Schritten. Dahinter verbirgt sich nichts weniger als ein vollständiger Bruch mit der gewohnten Form von Wahrnehmung und Darstellung der sichtbaren Realität.

Oberflächlich betrachtet, scheint der Wandel geringfügig zu sein. Nach wie vor löst das Licht den fotografischen Prozess aus. Mit dem kleinen Unterschied indes, dass ein Computerchip, versehen mit einer Menge lichtempfindlicher Elemente, die Aufgabe des Empfangs und Festhaltens der Lichtimpulse übernimmt, die das fotografische Motiv zurückwirft, statt der vertraute Silberfilm wie in der analogen Fotografie. Zwar wird mit der neuen Technik auch die Dunkelkammer überflüssig und damit der Ort, der den Gründungsmythos der Fotografie verbürgte. Aber nach wie vor werden Bilder auf Papier abgezogen, sofern sie jemand für aufbewahrenswert erachtet, und nach wie vor bedarf es beträchtlichen Talents und kreativer Phantasie, um hervorstechende Bilder zu verwirklichen.

Doch in dem kleinen Unterschied zwischen Chip und Film steckt des fotografischen Pudels Kern. Denn das winzige Halbleiterplättchen mit seinem verwickelten Innenleben verdichtet das von der Optik der Kamera erfasste Motiv nicht in anschaulich proportionaler Entsprechung wie ein "klassisches" fotografisches Filmbild, sondern es verwandelt die aufgefangenen Daten in ein theoretisch simples, praktisch höchst kompliziertes Zahlensystem, das mit dem von der Kamera anvisierten Motiv gar nichts mehr gemein hat.

Das Moment der zeitlichen und räumlichen Korrespondenz fällt aus. Eine eigenmächtige Rechenoperation ersetzt und simuliert das Ab-Bild des aufgenommenen Motivs. Auf dem fertigen Bild hinterlassen die Gegenstände des fotografischen Interesses in Wahrheit keine einzige Spur. Tante Else und Onkel Otto brauchen nicht mehr eigens nach Pisa zu fahren, um den schiefen Turm zu stützen. Mit einer Software können sie das gewünschte Bild auf dem Bildschirm selber konstruieren. Vergleichbar den Kindern, die "Malen nach Zahlen" betreiben. Die Konsequenzen sind zwar sichtbar, aber einschneidend. So findet der anhaltende Trend, die ganze Welt in eine Arena der Unterhaltung zu verwandeln, mit den digitalen Medien letztlich seinen angemessenen Ausdruck. Sie entwerfen das Bild einer Realität, das so künstlich ist wie das Lachgeräusch beim Durchlauf oder Comedy-Serien im Fernsehen, jedoch der empirischen Realität täuschend ähnlich. Eine Realität des Als-ob entsteht - die Wiedergeburt der ausgestorbenen Dinosaurier eingeschlossen.

Unvermeidlich übt sich durch ausgiebigen Konsum der Kunst-Wirklichkeit ein schleichender Realitätsverlust ein. Kein Bezirk des Daseins bleibt von der Entwicklung unberührt. Wenn im Vorgriff auf die Bundestagswahlen in den Medien häufiger von der Spannung die Rede ist, die das "Rennen" verspreche, als von den politischen Aspekten, bestätigt dieses eher zufällige Indiz, dass die Kategorien der Unterhaltung längst auch in die Politik überlappen. Sicher - schon Fotografie und Film haben den Trend befördert, aber stets bestand die Sicherheit, dass die vorgeführten Dinge mindestens eine Spur des erfahrbar Realen enthielten. Was ihre Bilder zeigen, hat sich tatsächlich vor der Kamera befunden.

Eine andere Konsequenz betrifft das in Bildern versammelte Gedächtnis der Menschheit und seine Aufbewahrung. Wer erinnert sich nicht, wie man kurz vor dem Millenniumswechsel verzweifelt nach Fachleuten suchte, die noch die technisch überholten Dateien zu lesen fähig waren, um ihre Umstellung auf die neue Zeitrechnung bewerkstelligen zu können und denkbare Fehlschaltungen mit unübersehbaren Folgen zu verhindern. Auch ein digitalisiertes Foto-Archiv wird irgendwann, allerdings mit unerbittlicher Zwangsläufigkeit unlesbar. Deshalb wird die Industrie nicht müde zu betonen, ausschließlich ein Papierabzug garantiere, dass ein Bild 30 Jahre ohne Qualitätsverlust überstehe. Die problemlose Entsorgung großer Teile des kollektiven Bildgedächtnisses, bei Nichtgefallen oder Geldmangel, erleichtert die digitale Technik dennoch erheblich.

Gleichwohl hält ihr Siegeszug an. Im Jahr 2003 verkaufte die Industrie in Deutschland 4,9 Millionen Digitalapparate, fünf Mal mehr als Spiegelreflexkameras. Das japanische Unternehmen Fuji veranschlagte 2004 über zwei Milliarden Abzüge von Chips-Aufnahmen; Tendenz steigend. Der Gewinneinbruch in diesem Jahr wird auch mit der schwachen Nachfrage nach Filmen erklärt. Auch Eastmann Kodak, Amerikas weitgrößter Hersteller von Foto-Material, verbucht von Jahr zu Jahr wachsende Verluste, weil die Nachfrage nach Filmen rapide sinkt, und sieht sich deshalb veranlasst, seine Belegschaft bis 2007 um 40 Prozent zu verringern. Kodak, Agfa, Leitz verkörpern die Symbole einer allmählich verblassenden Epoche der Kulturgeschichte. Doch Bilder werden auch künftig in Massen und von Rang gemacht. Es fragt sich nur, von welcher Art.

© Klaus Honnef

Immer alles auf Anfang. Zürichs Kunsthaus zeigt das Gesamtwerk des Malers. Bis heute ist er vital und originell geblieben (2005)

Die Welt, 13. April 2005

Künstlerische Leistungen nach sportlichen Maßstäben zu beurteilen, gilt als unschicklich. Dabei sind die Beziehungen zwischen Kunst und Sport enger, als die meist peinlichen Ausstellungen anlässlich olympischer Spiele ahnen lassen. Und seit die Künstler wichtiger als die Werke sind, spitzt sich der "Paragone", der Wettstreit um den Vorrang nicht mehr auf die "mediale" Frage zu, ob Malerei oder Skulptur den Sieg davon tragen, sondern zeigt sich im Verhältnis der Urheber selber. So verwundert es auch nicht, dass Sigmar Polke den "Aufschlag" des anderen deutschen Weltkünstlers Gerhard Richter, einst Partner und Freund und derzeit mit vier Ausstellungen präsent, angenommen und dank eines brillant platzierten "Returns" souverän beantwortet hat. Im einflussreichen Kunsthaus Zürich schlägt das zweite künstlerische Imperium jetzt mit einer umwerfenden und zugleich exklusiven Schau zurück.

Schon ihr Umfang übertrifft den Rahmen, der rasch verglühenden Kometen des Kunstgeschehens gewöhnlich gesetzt wird. Zwar beschränkt er sich mit 1200 Quadratmetern Fläche auf ein kleineres Areal als die Düsseldorfer Kraftprobe des Kontrahenten, dafür enthält die Ausstellung viele brandneue Gemälde von beträchtlichem Format, und sie vereint zum ersten Mal die gemalten und die fotografischen Bilder des Künstlers. Sigmar Polke präsentiert sich hier in Bestform. Obwohl er mit schnellen Schritten auf das offizielle Rentenalter zusteuert, hat seine Kunst nichts von ihrer sprudelnden Vitalität, geistigen Frische, visuellen Phantasie, ästhetischen Provokation und nachhaltigen Wirkung verloren. Von Alterswerk keine Spur.

Unvermindert treibt den blitzgescheiten Künstler die unbezähmbare Neugierde um, gepaart mit höchster Risikobereitschaft. Nicht einmal vor der Gefährdung der eigenen Person macht er halt. Polke geht jedes Risiko ein – intellektuell, ästhetisch, technisch und physisch. Nicht selten hat er Pigmente für seine Gemälde verwendet, deren unkontrollierter Gebrauch – "gehaucht, gepustet, gewischt und poliert", wie es in den Legenden einiger Gemälde heißt – zu gesundheitlichen Schäden führt. Ein Preis, den der Künstler bereitwillig entrichtet, um der Malerei völlig neue farbliche Kraftfelder und bis dahin nicht gekannte Ausdrucksmöglichkeiten zu erschließen. Das so ermüdend häufig beschworene Ende der Malerei? Bei Polke steht alles immer auf Anfang.

Kein Zweifel – dieser Maler gehört noch als später Nachfahr einer Generation der großen Entdecker in der Kunst an. "Ich suche nicht, ich finde", hatte Picasso einmal – ich glaube zu Brassaï – gesagt. Mit unersättlicher Experimentierlust geht Polke vor, und er scheut sich nicht, höhere Wesen als Inspirationsquelle zu benennen, noch "Tischerücken" (1981) zum Bildmotiv zu erheben; häufig begleitet von ironischem Augenzwinkern, das sich mitunter zu beißender Ironie steigert.

"Financial Freedom While Helping" (2003) ist der Titel eines in Mischtechnik auf Stoff realisierten Gemäldes, auf dem die modernsten Schnellfeuerwaffen, sorgfältig arrangiert für die üblichen Mörderbanden, in grob aufgerasterter Form der Abbildung zum Kauf angeboten werden, überglänzt vom goldenen Schimmer der Farbe mit gelegentlichen Einsprengseln giftigen Grüns und Rosas. Dargestelltes und Darstellung agieren in scharfem Kontrast, und die bodenlose Spannung sorgt wenigstens für einen Anflug von Gänsehaut bei den Betrachtern.

Wie der Künstler mit unverhohlener Leidenschaft sämtliche Himmelsrichtungen des Globus bereist, erkundet er auch das Reich der unterschiedlichsten Bildwelten; und wie er in die Bazare der fremden Länder eintaucht, um bizarre Dekorationsstoffe für den Einsatz in seinen Bildern zu erwerben, setzt er sich über die Grenzen der hierarchischen Grenzen der westlichen Kultur hinweg und verbindet unbekümmert Oben und Unten, das Anspruchsvolle und das Triviale. Nach dem Schema des Goldenen Schnittes der Klassischen Malerei auf der transparenten Leinwand von "Hüter der Schwelle" (2005) nach rechts gerückt, jagt in riesenhaft aufgeblasener fotografischer Abbildung eine weibliche Nackte zwei männliche mit einer Mistgabel lachend auf die Betrachter zu. Unterdes wird hinter der sonst durchsichtigen Bildfläche das Lattengerüst des Gemäldes mitsamt der bloßen Wand sichtbar. Es ist verblüffend, welche Fülle widersprüchlichster Eindrücke sich entfaltet, wenn man sich mit dem Bild im buchstäblichen Sinne des Wortes "aus-einander-setzt", körperlich und geistig, das in der fotografischen Reproduktion nur banal ist.

Das Begriffsbesteck der kunstkritischen Analyse erweist sich angesichts der Bilder Polkes regelmäßig als unbrauchbar. Entsprechend stürzt der Künstler die Besucher seiner Ausstellung in ein phasenweise haarsträubendes Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Es sei denn, sie gelangen nach Absolvierung seines Bilderparcours zu der Erkenntnis, dass Sehen keine passive und risikolose Angelegenheit ist.

Doch Vorsicht muss beständig üben, wer sich vor den versteckten Bildfallen wappnen will. Nicht von ungefähr markiert ein überdimensionales "Schattenkabinett" (2005) mit Silhouetten von Tiergestalten eines Spielzeugzirkus', die sich auch in anderen Gemälden einfinden, den Auftakt der von Bice Curiger glänzend aufgebauten Hindernisstrecke. Manchmal erscheint die sichtbare Welt wie eine Projektion in Schwarz-Weiß-Malerei. Gleichsam als Wendeboje grüßen "Hütchenspieler" (1998) in Gestalt eines schrecklich schönen Polyester-Harz- und Ölgemäldes ohne Wandbindung, von der Rückseite durch ein Fenster erleuchtet, und warnen, dass nicht alles, was man zu sehen glaubt, auf den Bildern auch tatsächlich vorhanden ist. Eine Art vergrößerter Briefmarke im polketypischen Rasterstil feiert den Schutzpatron der Alchemisten, "Hermes Trismegistos I" (1995): die offene Hommage des zeitgenössischen Meisters der ästhetischen Tricks an den mittelalterlichen Meister der Lüge, der Subversion und der Tiefsinnigkeit. Mit ungeheuer anspielungsreichen Bildern demonstriert Polke lustvoll die Wahrheit der Kunst als Summe ihrer Lügen. Am Medium Fotografie hat ihn deshalb die chemische Seite und die "Magie" des latenten Bildes bei der Bild-Entwicklung stärker interessiert als seine sonst gerühmte Fähigkeit authentischer Realitätswiedergabe. Auch wenn er sich ihrer einfallsreich zu bedienen weiß, wie es die bestechenden Serien fotografischer Bilder in der Ausstellung und die Aufnahmen eines in den originellen Katalog eingearbeiteten Künstlerbuches schlagend dokumentieren. Fotografie oder Malerei – die Differenz ist für Sigmar Polke nicht der Rede wert. Nach der grandiosen Schau im Züricher Kunsthaus steht es in der Ideal-Konkurrenz zwischen Sigmar Polke und Gerhard Richter wieder unentschieden. Der Rest ist Geschmackssache.

© Klaus Honnef

Bloß nichts Buntes! (2005)

KUNSTZEITUNG, Nr. 101/Januar 2005

Schwarze Fahnen über der Ruhr – Alarmzeichen für Politiker aller Couleur, als Kohle und Stahl noch Stoff und Träger des wirtschaftlichen Wohlergehens waren. Schwarze Fahnen signalisierten Anarchie. Meine früheste Erinnerung an die Farbe. Andererseits steht Schwarz für konservativ im politischen Spektrum, mit klerikalem Bodensatz freilich. Denn einst trugen die Kirchenherren Schwarz, bevor sie, wenigstens im katholischen Beritt, die Leiter der Hierarchie aufstiegen. Schwarz war die Farbe des spanischen Hofes. Schwarz ist eine Modefarbe zeitgenössischer Konsumkultur. Und Schwarz kündet von Trauer. Doch in Schwarz verbreiteten auch Faschisten und die SS namenlosen Schrecken.

Seit ich Ende der 1950ger Jahre zum ersten Mal Paris besucht habe, ist Schwarz trotz allem die bevorzugte Farbe meiner Kleidung. Die letzten Hinterbliebenen des Existentialismus in den Jazzkellern des Quartier Latin gefielen sich und mir in schwarzem Outfit und Gemüt. Sie träumten von Juliette Greco in zu engen Pullovern und zitierten Sartre oder Camus. Die verrauchte Atmosphäre und klagenden Töne der kühlen Musik zogen mich unwiderstehlich an. In den nachtschwarzen Bildern und Plots des „Film Noir“ Hollywoods fand ich die gleiche Stimmung. Schwarz kleidet ungemein. Schwarz gewandet waren einst die männlichen Repräsentanten der bürgerlichen Gesellschaft – und sind nach wie vor die Kellner in den Pariser Bistros. In der westlichen Hemisphäre besitzt die Farbe eine Fülle widersprüchlicher Bedeutungen.

Schwarz ist keine Farbe, hieß es einmal in Kreisen der Kunstkritik. Von Nichtfarbe war die Rede - wie beim Gegenpol Weiß. Schwarz ist eine Farbe, behauptete hingegen der Farbmaler Henri Matisse. Sein Gemälde „Porte-fenetre à Collioure“ (1914) mit dem Blick in eine rabenschwarze Nacht, flankiert vom blau-grau-violetten Fensterglas und Vorhang in Ocker sowie grüner Wand, gehört zu meinen Lieblingsbildern. Als habe der Künstler in die dunkle Zukunft Europas geschaut. Von Beginn der frühen Neuzeit hat Schwarz in der Kunst der westlichen Welt Tradition. Häufig lieferte es den Hintergrund für die eindrucksvollen Porträts derjenigen, die das Recht auf ihr Abbild besaßen. Nicht minder häufig ist es auch die Farbe ihres Gewandes. Die ganz Großen unter den Malern von Hals bis Goya, von Rembrandt bis Velasquez malten Fond und Motiv Schwarz auf Schwarz und dennoch unterschiedlich. So führten sie dank brillanter Technik ihre Meisterschaft vor und warben um Kunden.

Wer Augen hat zu sehen, erkennt schnell, dass Schwarz in der Kunst selten oder nie schwarz ist, vielmehr eine Farbe von Nuancen ohne Zahl. Allein schon die Darstellung der Kleidung: samtschwarz, schwarzer Satin, schwarze Seide, schwarzer Tüll, das schwarze Pelzchen kein Material wie das andere, und die Übergänge... unwillkürlich zuckt es in den Fingern, und ich möchte sanft darüber streichen. Große Malerei appellierte nicht nur an den Seh-, sondern auch an den Tastsinn. Sie orchestriert die materielle Substanz der Farbe. Im Spiegel der sichernden Glasscheiben in den Museen geht diese Qualität verloren. Max Raphael, der seine Theorien über die Kunst aus der Anschauung entwickelt hat und leider (deshalb?) an die Peripherie des ästhetischen Diskurses gerückt ist, hat der Farbe Schwarz funkelnde Studien gewidmet. Angesichts des Porträts eines spanischen Edelmannes – „Tiburio Perez y Cuerro“ (1820) - aus der Hand Goyas notierte er: „Man könnte vielleicht sagen, dass das Schwarz der Kleidung die Farbe der gelebten Erfahrung ist, das Schwarz des Hintergrundes dagegen die Farbe der noch ungelebten, unbekannten, also auch unbezwungenen Erfahrung.“

In der Kunst der kompromisslosen Avantgarde ist Schwarz (neben Weiß) die Farbe schlechthin. Vom schwarzem Quadrat auf weißem Grund Kasimir Malewitchs über Robert Motherwells spanische Bilder, Mark Rothkos mystischer Kapelle in Houston/Texas, Francis Bacons „letzten Triptychen“ bis zu den „letzten Bildern“ Ad Reinhardts, den schwarzen Gemälden Frank Stellas, Richard Serras düsteren Riesenzeichnungen und Arnulf Rainers Übermalungen. Von Robert Häussers schwarzen Fotografien ganz zu schweigen. Es ist gleichwohl ein anderes Schwarz, das zu uns spricht, als in den Gemälden der Spanier und Holländer sowie ihres künstlerischen Erben Edouard Manet. Die vibrierende Sinnlichkeit fehlt. Eine metaphysische Dimension ist an ihre Stelle getreten. Die Bilder der Kunst haben sich in Gegenstände der Kontemplation verwandelt. Körperlose Körper.

Das schwarze Quadrat von Malevitch schlägt die Brücke zum Reich der Ikonen. Wenn ich mich nicht täusche, ist die Farbe seiner drei Versionen stumpf, ohne Tiefe. Sie schwingt nicht. Man blickt in ein schwarzes Loch quadratischen Formats. Schwarz ist in der Moderne eine düstere Farbe geworden, durchtränkt von Schwermut und Hoffnungslosigkeit. Eine illusionslose Farbe. Mit dem „illusionistischen“ Bild der vor-modernen Malerei scheint auch der Kunst die Freude am Diesseits verloren gegangen zu sein. Erfahrung, die nicht mehr gelebt wird?

© Klaus Honnef

Glaubst Du noch oder siehst du schon? Die Essener Ausstellung „Wirklich wahr“ fragt nach dem Realitätsgehalt von Bildern und stiftet produktive Verwirrung (2004)

Die Welt, 12. August 2004

Ein potentieller Käufer, von Picasso im Atelier herum geführt, kritisierte dessen gebrochene Darstellung von Menschen und präsentierte, um einen Beweis gebeten, wie diese seiner Meinung nach korrekt ausfallen müsse, das fotografische Porträt seiner Angetrauten. Nach intensiver Musterung des Bildes habe der Maler geantwortet: „Aha, das ist ihre Frau. So klein ist sie. Und so flach!“ Heinz von Foerster überliefert die Anekdote in einem Buch mit dem provokanten Titel „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“, und die beiden Kuratoren Sigrid Schneider und Stefanie Grebe zitieren sie genüsslich in der inspirierenden Ausstellung „Wirklich wahr! Realitätsversprechen von Fotografien“ des Ruhrlandmuseums in Essen.

Im Zeichen einer fortgeschrittenen Mediengesellschaft dürfte eigentlich niemand anders als der scheinbar naive Meisterkünstler auf eine fotografische Aufnahme reagieren. Denn die Differenz zwischen Motiv und seinem Abbild springt förmlich in jedes Auge. Gleichwohl galten und gelten Fotografien nach wie vor in besonderem Maße als realitätskonform und wirklichkeitswirksam, und nur gelegentlich erheben sich laute Zweifel, wenn sie als untrügliche Beweise in verschiedenen Prozessen des Daseins aufgeboten werden. Vom Unfall- über das Such- bis zum Gräuelfoto. Das Urlaubsfoto der Touristen dokumentiert nach allgemeiner Ansicht ihre Anwesenheit am Eiffelturm stichhaltiger als der Erwerb einer Postkarte des Monuments. Selbst ein Bundespräsident mischte sich einmal in eine mit allen erdenklichen fotografischen Beweisen ausgestattete Diskussion um ein tatsächliches oder vermeintliches Tor, als die deutsche Fußballnationalmannschaft noch in Endspiele gelangte. Und in Großbritannien war die Öffentlichkeit so erleichtert, dass sich die Bilder folternder britischer Soldaten im Irak rasch als Fälschungen entpuppten, dass die Frage nach möglichen Verstößen auch ihrer Truppe prompt verstummte.

Aus welchen Grund gewähren die Menschen der Fotografie einen solchen Kredit? Ganze Bibliotheken wissenschaftlicher Analysen haben zu erklären versucht, dass die Zeichen, die eine Fotografie von der sichtbaren Welt festhält, kraft ihrer spezifischen Technik nicht willkürlich sondern zwangsläufig, gleichsam physisch mit den abgebildeten Gegenständen verbunden sind. Im Gegensatz zu den handwerklich geschaffenen Vergegenwärtigungen. Doch erklärt dies nur unzureichend, weshalb wir fotografische Bilder für wahrer im Sinne von wirklichkeitsgetreuer halten als gemalte oder gezeichnete. Dabei waren die Gläubigen vormoderner Zeiten in Europa davon überzeugt, in den standardisierten Ikonendarstellungen von Christi und seiner Mutter Maria die Abgebildeten leibhaftig vor sich zu sehen.

Unbeschadet aller kritischen Einwände, schrieb der Filmkritiker André Bazin, bliebe uns nichts weiter übrig, als an die Existenz der im fotografischen Bild „re-präsentierten“ Dinge zu glauben, und Roland Barthes spricht in seinem Buch „Die helle Kammer“ sogar von einem magischen Verhältnis. Gegen Magie und Glauben ist jedoch kein Kraut gewachsen, und darum vermag auch die bestechend intelligente und sorgfältig erarbeitete Ausstellung „Wirklich wahr!“ trotz gut platzierten Gegenzaubers mit trefflichen Beispielen an dem augenscheinlich menschlichen Urbedürfnis nach Illusion nichts zu ändern. Dafür stiftet sie Verwirrung, produktive Verwirrung indes, und nicht zu knapp, indem sie die künstlichen Unterscheidungskriterien der verschiedenen fotografischen Disziplinen als ebenso fragwürdig erscheinen lässt wie das gemeinhin unterstellte „Realitätsversprechen von Fotografien“: Angebliche Reportagebilder vom Krieg sind in Wahrheit Bestandteile einer Werbekampagne, sozialkritische Dokumentaraufnahmen vom Horror des Alltagslebens penibel inszenierte Mode- oder Kunstfotografien, und einfache, „authentische“ Amateuraufnahmen verwandeln sich unversehens in Zeugnisse mutmaßlicher ästhetischer Bestrebungen. Ohne die Hilfe der Bildlegenden würden die Betrachter in die meisten der aufgestellten optischen Bildfallen tappen. Vermitteln die Unterschriften aber die Wahrheit?

Nichts desto weniger schickt die erfrischend übersichtliche Schau, die Fotografie in zahlreichen ihrer Anwendungsweisen demonstriert, alle vordergründigen Thesen von der Realitätsnähe und -dichte zeitgenössischer Kunstfotografie, wie sie etwa die gegenwärtig zirkulierende Ausstellung „Cruel and tender“ vertritt, als leere „Realitätsversprechen“ ins Reich der Spekulation. Wahrscheinlich ziehen wir im Endeffekt das Maß an Realitätserfahrung, das wir in die fotografischen Bilder und abhängig von ihrem jeweiligen Kontext projizieren, auch aus ihnen wieder heraus. Noch entspricht das Medium dem kollektiv vorherrschenden Bild der Realität. Nur nach Maßgabe seiner Bilder besitzen dank digitaler Technik aufwändig rekonstruierte Dinosaurier im Kino auch ihre „realistische“ Gestalt. Welches Bild die menschlichen Zeitgenossen in grauer Vorzeit von ihnen hatten, weiß tatsächlich keiner.

Wohlweislich spart „Wirklich wahr!“ die Tendenz der Fotografie zur Ikonolatrie aus. Es sind nämlich fotografische und filmische Bilder in ausgepichter Stilisierung, die Menschen aus der Sphäre der Unterhaltungsindustrie säkulares Verehrungspotential mit hohem Wirkungsgrad verleihen. Von Leinwandgöttern und war einst die Rede. Selbst banale Konsumartikel profitieren gelegentlich von der Aura des Fotografischen. Vielleicht ruft diese Eigenschaft des Mediums das unverminderte Verlangen hervor, fotografiert zu werden oder sich selbst zu fotografieren. Mit dem „klassischen“ Porträt, das vorgab hinter die Fassade der Porträtierten zu leuchten, haben solche Bilder nichts gemein.

Das Ergebnis eines Wettbewerbs des Kölner Forums für Fotografie, das dessen ungeachtet nach „dem“ fotografischen Porträt fahndete, demonstriert nachdrücklich, dass sich die Vorstellung vom Bildnis einschneidend gewandelt hat. Es sind kaum unterscheidbare Durchschnittgesichter, die den Betrachtern begegnen, selten „Charaktere“. Wer indes genauer hinschaut, entdeckt, dass sie ein völlig diffuses Identitätsmuster entfalten, eines, das sich in Nuancen äußert und seine Unverwechselbarkeiten aus fast versteckten Signalen der Gruppenzugehörigkeit, sozialen Schicht, des örtlichen Umfeldes und der Mode, des Films und der Fotografie bezieht. Das „Realitätsversprechen“ der Fotografie verheißt allen, die fotografiert werden, jenen Augenblick, wo sie sich scheinbar über die Zwänge ihrer Alltäglichkeit erheben können.

© Klaus Honnef

Die Avantgarde war eine Episode. Zwei Ausstellungen erklären die Fotografie zum trojanischen Pferd für die Tradition (2004)

Die Welt, 16. Juni 2004

Was Skylla und Charybdis für den listenreichen Odysseus, waren Mode und Museum für die allmählich verdämmernden Kunst der Moderne. Drohten dem Sieger über Troja Meerungeheuer und Höllenstrudel zugleich, sah sich die modernistische Kunst gezwungen, zwischen der Doktrin beständiger Erneuerung und dem konträren Verlangen nach ewiger Dauer zu manövrieren. Das spannungsvolle Verhältnis löste sich erst, als das Museum am Ende des vergangenen Jahrhunderts über die Mode triumphierte und sie sich einverleibte. Seither beschränken sich beide Agenten westlicher Kultur im Wesentlichen auf die Variation immer schneller auf- und ablebender Blütenmuster.

Während das Museum of Modern Art in der Berliner Nationalgalerie noch einmal die Fama der heroischen Moderne feiert und im heimischen New York längst deren Revision erprobt, haben sich derweil die meisten Museen Europas von der einseitigen Sicht auf die Kunst aus dem Blickwinkel der Avantgarde mehr oder weniger stillschweigend verabschiedet. In den jüngeren Zeugnissen der Werteskala zeitgenössischer Kunst überschatten Picasso und Matisse wieder Duchamp und Dada sowie die Vertreter abstrakter samt konzeptueller Tendenzen. Figurative Maler wie Bacon, Balthus, Baselitz, Freud, Fischl und Pearlstein gehören jetzt zum Kernbestand und haben den Ruch der Außenseiter verloren. Neben sie treten mit wachsender Anzahl und wachsendem Gewicht die Namen von Professionellen der einst gering geschätzten technisch-kommerziellen Künste Fotografie und Film wie Bũnuel und Hitchcock, Edward Steichen und Helmut Newton, ganz zu schweigen von Modedesignern wie Saint Laurent und Armani.

Im Vollzug des kulturellen Wandels fiel dem Medium Fotografie die Rolle des trojanischen Pferdes zu. Zwar verdankt sie sich anders als die hölzerne Kriegsmaschine nicht dem Einfall eines einzigen Mannes wie dem Helden von der griechischen Insel Ithaka, sondern eher einer besonderen historischen Konstellation, der Erwartungshaltung einer sich entfaltenden Industriegesellschaft. Lediglich der Ruf, ein Instrument der Täuschung zu sein, ist Ross und Medium gemeinsam. Aber im Gegensatz zur Kunst der Avantgarde, die lauthals den Bruch proklamierte, knüpfte die Fotografie unbeschadet ihrer unterschiedlichen Technik in ästhetischer Hinsicht von vorneherein an die Ausdrucksformen der Kunst vor dem Aufbruch der Moderne an und setzte ihre Tradition fort. Eine Kunst um der Kunst willen war die Fotografie – von einigen Ausnahmen abgesehen – nie. Nicht einmal in ihrer kurzen avantgardistischen Phase, deren Bildleistungen ohnehin rasch Beute der Werbung wurden. Vielmehr stets eine Kunst, die in puncto professioneller wie privater Nutzung tief in den gesellschaftlichen Zusammenhang eingebunden ist und deshalb ihren Gegenstand, so Siegfried Kracauer, auch nicht „vollständig verzehrt“. Dementsprechend erschöpfen sich fotografische Bilder nicht in purer Selbstbezüglichkeit. Sie stellen immer etwas dar, das sie nicht selber repräsentierten.

Als vor rund dreißig Jahren die Museen auf breiter Front die Fotografie zur Kunst promovierten, folgten sie einer verbreiteten Ansicht, der gemäß Kunst ein unwandelbarer Begriff ohne Verfallsdatum ist und sich allein aufgrund eigener und im Prinzip unwandelbarer Gesetze legitimiert. In der üblichen Verwechslung von Zweck- und Nutzlosigkeit übersah man, dass die fotografischen Bilder den herrischen Kunstanspruch des Modernismus relativierten. Nicht ästhetische Autonomie verkörperten sie – sie proklamierten unverhohlen einen ästhetischen Revisionismus. Was die Avantgarde auf den Speicher der Geschichte verbannt hatte, bewahrte sich in der Fotografie: die alten Gattungen der Kunst wie Porträt, Landschaft und Stillleben, kurzum, der verpönte Inhalt samt den vielfältigen Facetten der sichtbaren Realität.

Dass die Avantgarde womöglich nur eine unwichtige Episode in der Geschichte der Kunst war, wie der Kunsthistoriker Martin Warnke behauptet, unterstreicht aufs Eindrücklichste die reich bestückte Sommer-Ausstellung „Das Geheimnis der Photographie“ im Alten Rathaus von Ingelheim. Sie ist, nachdem im vorigen Jahr das Porträt zur Debatte stand, dem Thema „Landschaft & Stilleben“ gewidmet. Bemerkenswert ist die Ausstellung nicht allein wegen der Qualität ihrer Bilder, bemerkenswert ist sie deshalb, weil sie die Bildwelt des 19. direkt in die des 21. Jahrhunderts münden lässt. Die Linie der Kontinuität verläuft von Hill/Adamson, Le Gray und Watkins ungebrochen bis Gursky, Hütte, Nieweg und Sasse aus der berühmten „Becher-Schule“. Die fotografische Avantgarde spart die Ausstellung bewusst aus. Dafür nennt der Katalog die profilierten Pioniere der Fotografie ehrfürchtig „Meister“.

Gleichwohl fristen sie als Künstler in der geschriebenen Geschichte der Kunst allenfalls eine Fußnotenexistenz. Doch wer käme auf die Idee, Cézanne oder van Gogh als „Meister“ zu apostrophieren? In der Biografie Steichens findet sich denn auch kein Hinweis, dass der ehemalige Chef der Luftaufklärung des amerikanischen Expeditionskorps‘ anno 1917 später als höchst bezahlter Fotograf seiner Zeit das Geschäft der Modefotografie industriell betrieb.

Den durchschlagenden Erfolg des Mediums krönt die rasant anschwellende Anerkennung der „klassischen“ Fotografie der frühen Jahre. Vor geraumer Zeit kündigte die Messe „Paris Photo“ sie bereits an. Ihre Bedeutung demonstriert eine üppig ausgestattete Ausstellung der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung in München mit dem Titel „Fotografie und Malerei im 19. Jahrhundert“. Sie versammelt eine Fülle erstklassiger Bilder von Fotografen, die noch technische Erfinder ihres Metiers waren. Angesichts des Aufgebots an Fotografien verblassen die gezeigten Gemälde und Zeichnungen. Im Vergleich zur Ingelheimer Ausstellung entschied sich Kurator Ulrich Pohlmann indes für eine differenziertere Sicht. Einerseits beschränkte er sich strikt auf die Pionierphase, andererseits dehnte er das Feld der Fotografie über das enge Terrain der Kunst auf ihre Anwendung in Kunst, Wissenschaft und Publikationsmarkt aus, betont mithin ihre gesellschaftliche Dimension. Damit öffnet er – je nach Perspektive – den Blick für das Neue oder das Alte der Fotografie im Rahmen der Kunst. Im Focus einer solchen Optik entpuppt sich die Avantgarde plötzlich als „out of fashion“ und ähnlich antiquiert wie die Mode von gestern, die ebenfalls zum Stoff des Museums geworden ist.

© Klaus Honnef

Von Hieronymus Bosch zu George Bush: Bilder haben eine irrationale Macht. Sie sind stärker als die Rationalität der Sprache (2004)

Die Welt, 13. Mai 2004

Er kam vom Himmel im modernen Heldendress und verkündete zur besten Fernsehzeit auf einer schwimmenden Festung das Ende der Kämpfe. Seine bildbewussten Helfer inszenierten den amerikanischen Präsidenten als Wiedergänger des Heilands christlicher Mythologie. Ob sie die Kameras der ausgewählten Sender vordergründig nach dem Muster eines Hollywood-Spektakels, Tony Scotts „Top Gun“, postierten, ist nebensächlich. In Wahrheit beschworen sie wie der Filmregisseur weit ältere Bilder, Bilder der Kunst, Bilder des Mensch gewordenen Gottessohns, der mit seinem leiblichen Tod die Menschheit erlöst hat, um am jüngsten Tag auf die Erde zurückzukehren und den Gerechten den Weg ins Paradies und den Ungerechten den abschüssigen Grat in die Hölle zu weisen. Kirchenfürsten und Klosterherren hatten sie einst in Auftrag gegeben. Vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne erfüllten sie die Aufgabe, die Heerschar der Gläubigen zu einem ehrbaren und gottesfürchtigen Leben anzuhalten.

Und wie die kundigen Bilderproduzenten im Dienst des angeblich mächtigsten Herrn der materiellen Welt wandten ihre Urheber, die großen Maler ihrer Zeit, alle verfügbaren Kniffe der Bildrhetorik an, die Adressaten der Botschaft ihrer Bilder mit der Macht ihres Bildvortrags zu beeindrucken, zu überreden, gegebenenfalls zu überwältigen, und sie scheuten sich nicht, Furcht und Schrecken zu säen. Gerade einmal ein Jahr nach der Friedensbotschaft hat das Bild des säkularen Heilsbringers empfindliche Risse bekommen. Nicht allein, weil es zu den tatsächlichen Verhältnissen im angeblich befriedeten Land in schreiendem Gegensatz steht. Seine Wirkung haben vielmehr andere Bilder gebrochen, Bilder von Menschen, die ihrer Würde gänzlich beraubt worden sind, und nebenbei den zutiefst blasphemischen Charakter der Bilder des profanen Fliegergottes enthüllen. Niemand bezweifelt, dass die fotografischen Aufnahmen der Folterungen irakischer Soldaten authentisch sind.

Doch es ist weniger ihre Echtheit, die ihnen die ungeheure Eindrucksmacht verleiht, sondern die Art der Inszenierung des Entsetzlichen. Dadurch erscheint die Tat doppelt verwerflich. Die Autoren der Bilder haben ihre unbekleideten Opfer augenscheinlich für die Optik der Kamera zugerichtet, und es ist wohl unzweifelhaft, dass die grausamen Bilder von vorneherein zur Veröffentlichung bestimmt waren.

Einige der Fotografen bezeugen ein ebenso profundes Gespür für prägnante Bildwirkungen wie die Regisseure ihres Präsidenten. Auch diese Bilder verdanken sich bezeichnenderweise dem Repertoire der Kunstgeschichte, gleichgültig, ob sie bewusst oder unbewusst in Anspruch genommen wurden, und es ist der bitteren Ironie des Weltgeistes geschuldet, dass sich die Darstellungen der erbarmungswürdigen Wesen in menschlicher Gestalt auf denselben apokalyptischen Bildern befinden, auf denen der Weltenrichter die Guten von den Bösen scheidet.

Als die Verdammten tauchen sie dort auf, teils mit fratzenhaften Köpfen versehen, teils an der Leine geführt wie Hunde, ihre Körper zu Pyramiden gehäuft und meistens nackt. Haben die Fotografen das unvollständige Bild der Regisseure des Präsidenten also letztlich nur im Geiste der apokalyptischen Gemälde von Künstlern wie Stefan Lochner oder Hieronymus Bosch unfreiwillig ergänzt, nicht wissend, dass die Vorstellungen, die sich in ihnen spiegeln, kraft historischen Wandels relativiert worden sind und inzwischen nicht bloß in muslimischen Gesellschaften Wut und Fassungslosigkeit provozieren? In der Logik einer Doktrin, die sich auf die fundamentalistische Idee eines Kreuzzuges gegen „Schurkenstaaten“ beruft, wäre die Vermutung nichts desto weniger nahe liegend. Gleichwohl drohen die schrecklichen Bilder der gedemütigten Gefangenen das hehre Bild des Erlöser-Präsidenten allmählich auszulöschen. Dessen clevere Bildstrategen müssten schon erheblich stärkere Bilder mobilisieren, um ihren verheerenden Eindruck noch neutralisieren zu können. Etwa das Bild eines Kniefalls, wie ihn der deutsche Kanzler Willy Brandt in Warschau vollführte, oder Bilder aus der Leidensgeschichte Christi.
Woher aber rührt die ungeheure Eindrucksmacht der Bilder über die Wahrnehmung der Menschen? Das Zeitalter der Fotografie, des Films und des Fernsehens hat sie, wie mitunter behauptet wird, nicht erfunden, sondern nur in ungeahnter Weise verbreitet und verstärkt. Bereits der erste römische Kaiser vermochte mit Hilfe eines ausgeklügelten Bild-Programms die vorwiegend republikanisch gesonnenen Bürger seines Imperiums zu treuen Anhängern des monarchischen Prinzips zu machen. „Augustus und die Macht der Bilder“ lautet der Titel eines aufschlussreichen Buches des Archäologen Paul Zanker, das den Prozess schildert.

Gerade die Bilder mit mythologischem Bodensatz und hoher Symbolkraft, die namentlich amerikanische Quellen gern lancieren, um militärische Siege zu illuminieren, und deren grauenhafte Pendants häufig die Siege in politische Niederlagen verwandeln, sind tiefer im psychischen Haushalt der Menschen verankert als gemeinhin vermutet wird. Bilder wie jenes des weinenden napalmverbrannten nackten Mädchens auf einer Straße in Vietnam standen am Anfang des Rückzugs der amerikanischen Soldaten aus dem südostasiatischen Land, andererseits Bilder der stürzenden Türme des World Trade Centers in New York, der Türme des modernen Babylons, am Beginn des „Krieges gegen den Terror“.

Auch inflationärer Gebrauch durch ständige Wiederholung in den Massenmedien mindert ihre Macht nicht. Es scheint im Gegenteil, als ob ständige Wiederholung und Variation sie seit ihrem ersten Aufleuchten in vorhistorischen Epochen den menschlichen Genen eingeschliffen hätten und sie nach entsprechenden Impulsen stets von neuem ihre Gewalt über das Denken entfalten würden. Vor der irrationalen Macht dieser Bilder offenbart die Rationalität der Sprache, lehrte der Kunsthistoriker Ernesto Grassi, regelmäßig ihre Ohnmacht.

© Klaus Honnef

Herold eines postmodernen Biedermeier. Die Fotografie ist auf dem besten Wege, in gefälliger Harmlosigkeit zu versinken (2002)

Die Welt, 24. April 2002

War die Avantgarde nur eine kapriziöse Laune der Kunst? Mit der Absicht, das Publikum zu verlachen? Sind ihre Verächter zu Unrecht als Reaktionäre gebrandmarkt worden? Hat sich ein mafiotisch operierender Kunstbetrieb verschworen, mehr als ein Jahrhundert lang die wahren Kunstwerke zugunsten leichtgewichtiger Kunstmätzchen zu unterdrücken? Wer sich so unbefangen wie überhaupt möglich in der zeitgenössischen Kunstszene umtut, vermag solche oder ähnliche Fragen kaum noch zu verdrängen. An den makellos weißen Wänden vieler privater und öffentlicher Galerien prangen Bilder von Blumen in leuchtenden Farben, atemberaubende Landschaften lassen im Riesenformat grüßen, alltägliche Gegenstände finden sich in bestechenden Arrangements und Menschen in sorgfältig inszenierten Posen. Die traditionellen Gattungen der Kunst, Porträt, Landschaft, Genre und Stillleben, die überlieferten Konventionen der Malerei, triumphieren über Montagen und Installationen. Als hätten Fauvismus, Expressionismus, Kubismus, Dada, Happening und Antikunst sie niemals mit ungeheurer Wucht verformt oder gar zertrümmert. Mit dem Unterschied allerdings, dass die alten Zöpfe im Medium Fotografie ihre Renaissance erleben.

Ausgerechnet in der Fotografie. Deren Kredit und Erfolg speiste sich einmal aus dem Umstand, dass sie die Welt der Bilder unmittelbar mit der sichtbaren Wirklichkeit samt ihren Schattenseiten verknüpfte. Einflussreiche Künstler der Avantgarde waren überzeugt, mit Hilfe fotografischer Technik dem, was man für eine nicht hintergehbare Wahrheit im individuellen und kollektiven Dasein hielt, näher zu kommen als mit den „historisch überholten“ handwerklichen Mitteln der Malerei und wechselten die Seiten. Später entdeckte man umgekehrt in zahlreichen professionellen Fotografen regelrechte Künstler. Augenscheinlich befriedigte die Fotografie den Hunger nach Wirklichkeit, den die Gesellschaft des Industriezeitalters erfüllte, und erweiterte das Spektrum ihrer Wahrnehmung. In fotografischen Bildern entdeckten die meisten US-Amerikaner das eigene Land, mit fotografischen Bildern prangerten engagierte Bildreporter soziale Missstände an und beförderten Maßnahmen zur Abhilfe, fotografische Bilder vom Krieg brannten sich in das allgemeine Bewusstsein und untergruben die Behauptung der Propaganda, dass es süß sei, für das Vaterland zu sterben. Von Fotografie als Waffe im politischen Streit war die Rede, und Siegfried Kracauer, der große Kulturkritiker, meinte, wenn Fotografie überhaupt eine Kunst sei, dann eine, die ihren Stoff im Gegensatz zu einer selbstbezüglichen Kunst nicht völlig verzehre.

Seit die Fotografie das Terrain der Malerei, ja der Kunst schlechthin, erobert und sich als neue Königsdisziplin in den Galerien und Museen etabliert hat, erscheint ihr diese Vergangenheit schon beinahe so peinlich wie dem Partygänger der Schmutzfleck auf seinem Smokinghemd. Zugleich schickt sich die Fotografie der Künstler an, sämtliche vorgeschobenen Positionen der zeitgenössischen Kunst rückgängig zu machen – vom Entwurf der abstrakten Malerei bis zur „Ausfransung“ (Theodor W. Adorno) in flüchtige Erscheinungsformen, die nur noch ein zersplittertes Bild der Wirklichkeit übermittelten.

Bei genauerer Betrachtung ist die Großbildfotografie der Gegenwartskunst tatsächlich nicht frei von Spuren eines ästhetischen Revisionismus. Nicht nur, dass sie völlig unverfroren die harmlosen Motive vergangener Kunstidyllen wiederbelebt und zu überwältigenden Dimensionen aufbläst. Auch die Sicht auf die abgelichtete Welt ist häufig ebenso wenig von des kritischen Gedankens Blässe angekränkelt wie die Art und Weise, in der ihre Gegenstände vergegenwärtigt werden. Während die Dinge ringsum aus dem Ruder laufen und ethische und moralische Grundsätze im Sog kommerzieller Interessen ihren bindenden Charakter verlieren, fotografieren die Stars der deutschen Kunstszene Bäume, Blumen, adrette Straßenpassanten, Häuschen und Lampenschirme, schicke Pornos mit Weichzeichnerlinse und die Lichter der Großstädte aus der Vogelperspektive. Die Welt in diesen fotografischen Bildern ist schön wie auf der Fototapete im nächsten Thai-Restaurant. Der Begriff „Kitsch“ hat seine abschreckende Wirkung eingebüßt, und der eventsüchtige Kunstbetrieb applaudiert erleichtert.

Endlich vorbei die Zeit einer problemorientierten Kunst mit ihren anspruchsvollen und spröden Zeugnissen. Die Großfotos verkaufen sich blendend. Die Sammler rangeln, wie Kunsthändler auf der letzten Art Cologne berichteten, um die in kleinen Auflagen produzierten Bilder. Selbst die harten Marktests der jüngsten Auktionen in New York und London bestanden sie allen Unkenrufen zum Trotz glanzvoll. Manche mit frischen Rekordpreisen. Die amerikanische Kunstkritik hat eine „Neue Düsseldorfer Schule“ ausgerufen, weil die erfolgreichsten der Fotokünstler an der dortigen Kunstakademie bei Bernd Becher studiert haben, und verleiht in Anspielung auf die Namen ihrer prominentesten Vertreter Andreas Gursky, Thomas Ruff und Thomas Struth der Gruppe spöttisch die Trademark „Strutzkys“. Die deutsche Kunstkritik sieht hingegen einen neuen Akademismus heraufdämmern.

Eine Ausstellung des Düsseldorfer Museums Kunst Palast unter der verkorksten Schlagzeile „heute bis jetzt“ demonstriert nachhaltig, dass sich so etwas wie Wirklichkeit allein in den störenden Reflexen der Betrachter auf den spiegelnden Oberflächen der flächendeckenden Aufnahmen einstellt. Lediglich die Bilder von Hilla und Bernd Becher, Candida Höfer, Ruff und Gursky zeigen den Willen, dem schönen Schein der Bilder einen doppelten Boden einzuziehen. Wo sich das Elend der Kriege in Nah- und Fernost zur erlesenen Dekoration in Schwarz verfeinert, die Straße als Laufsteg entpuppt und das Meer bloß noch an Yves Kleins blaue Gemälde denken lässt, triumphiert die Technik über die Kunst. Die Subjektivität der künstlerischen Identität bleibt auf der Strecke. Während das Museum zum Schaufenster des kommerziellen Handels verkommt, erweist sich die Fotografie als Herold eines postmodernen Biedermeier. Gleichwohl werden die Künstlerfotografen in dieser sterilen Schau unter Wert verhökert.

© Klaus Honnef

Bernd und Hilla Becher (2002)

Bernd und Hilla Becher. Festschrift. Erasmuspreis 2002, hrsg. von Susanne Lange, Schirmer/Mosel, München 2002

Wenn sich angesichts eines Bildes plötzlich die Zwänge lösen, die alle möglichen Erwartungshorizonte ihm vorschreiben, die inneren und die äußeren, und sich gleichsam ein doppelter Boden auftut, blitzt untrüglich künstlerischer Geist auf. Für Skulpturen, Zeichnungen und Bildensembles gilt das Gleiche. Dank dieses – selten gewordenen - Momentes gehören die fotografischen Bilder von Bernd und Hilla Becher zur Domäne der Kunst. Zwar bestreitet niemand (mehr), dass sie künstlerische Ansprüche souverän erfüllen. Aber es hieße doch, einen entscheidenden Punkt im Beitrag des deutschen Fotografen- und Künstlerpaares zu verfehlen, wenn man sich mit einer diesbezüglichen Feststellung begnügte. Wer lediglich die spezifisch künstlerischen Elemente in den fotografischen Aufnahmen, die meist zu Reihen, Sequenzen und Tableaux gefügt werden, hervorhebt, übersieht das genuin fotografische Erbe, das sich optisch und strukturell nicht minder prägnant behauptet. Siegfried Kracauer, der große Theoretiker der Fotografie, der erst spät als Historiker zum vollen Verständnis des Mediums gelangte, erkannte der Fotografie nicht von ungefähr einen besonderen künstlerischen Status zu: „Gesetzt, Photographie ist eine Kunst, dann eine Kunst, die anders ist: im Gegensatz zu den herkömmlichen Künsten darf sie sich rühmen, ihr Rohmaterial nicht gänzlich zu verzehren.“

Die Gegenstände des Fotografierens spielen in den Bildern von Bernd und Hilla Becher eine beherrschende Rolle. Sie als bloße Vorwände ästhetischer Explorationen zu betrachten, würde bedeuten, die Absichten der beiden Autoren gründlich miss zu verstehen. Die technischen Architekturen, die Wassertürme, Gasbehälter und Hochöfen, die Fördertürme und Fabrikanlagen, denen sie umfangreiche Monografien gewidmet haben, bestimmen maßgeblich die charakteristische Ästhetik ihrer künstlerisch-fotografischen Unternehmungen. Zudem reflektieren sie das technische Medium in zweifachem Sinne: einerseits als industrielle Zeugnisse der gleichen Vorstellungswelt, die auch die Fotografie hervorgebracht hat, andererseits als sozusagen vergegenständlichte Entsprechungen der fotografischen Bildmechanik. Thematischer Vorwurf und Träger der anschaulichen Wiedergabe verschränken sich auf einer kulturellen Ebene.

In der Fotografie hat sich die Wahrnehmung der technisch und industriell geprägten Zivilisation der Moderne objektiviert. Absolute Präzision in der Wiedergabe, radikaler Verzicht auf schmückende Ornamente, strikt neutrales Licht, das die konstruktiven Details und Zusammenhänge der fotografierten Motive offen legt, und die nüchterne Sachlichkeit in der Wahl des Blickwinkels aus Augenhöhe sind die äußeren Merkmale einer scheinbar kunstlosen, aber eminent fotografischen Ästhetik. Einsicht in das konstruktive Prinzip der fotografierten Gegenstände zu vermitteln, ist erklärtes Ziel der Autoren. In ihrem Werk entfalten sie die ästhetischen Positionen der avancierten Fotografie zur höchsten Perfektion und setzen die Tradition des „Neuen Sehens“, die sich in den Namen von August Sander, Karl Blossfeldt, Werner Mantz und – partiell – Albert Renger-Patzsch verkörpert, konsequent fort - allerdings modifiziert durch den texturalen Strukturalismus eines Walker Evans. Gleichwohl geht die Kunst ihrer Aufnahmen nicht vollständig in der Fotografie auf. Auch sie manifestiert sich unübersehbar als Eigenwert, ohne jedoch die Funktion des Widerparts zu besetzen. Dabei knüpfen die Bilder von Bernd und Hilla Becher nicht – wie Fotografien im Allgemeinen – an Prämissen der Malerei an, sondern sie erweitern die Zweidimensionalität bildnerischer Darstellung um eine skulpturale Dimension. Ursprünglich hatten die Fotografen-Künstler die Objekte ihrer fotografischen Darstellung „anonyme Skulpturen“ genannt. Deren plastische Wirkung ist das Ergebnis des angewandten Inszenierungsmodus der einzelnen Bilder zu sorgsam entwickelten Zyklen. Namentlich das Prinzip, die Aufnahmen sowohl nach typologischen als auch nach Gesichtspunkten der greifbaren Erscheinung anzuordnen, relativiert die Abbildeigenschaft des Fotografischen und unterstreicht die Autonomie der vergegenwärtigten Motive. Zeichen und Bezeichnetes fallen zusammen. Bernd und Hilla Becher verwandeln funktionale Industriearchitekturen, die ihre praktische Funktion verloren haben, in Gegenstände der ästhetischen Anschauung. Ihre historische Zeugenschaft büßen diese dennoch nicht ein. Das künstlerische Werk der Bechers siedelt in einer Sphäre der Intermedialität, die es zugleich thematisiert. Es ruht auf fotografischem Fundament. Darüber hinaus vereint es Gegebenheiten der Skulptur, der Architektur, des Films und einer zeichenhaften Körpersprache. Es sprengt die kategorialen Grenzen stilistischer oder sonstiger Bestimmung und eröffnet dem Diskurs über die Welt der Bilder ein noch unerschlossenes Terrain.

© Klaus Honnef

Kunst und Kommerz. Ein Verhältnis und seine Konsequenzen (2002)

Haushaltsbericht 2000/2001 der Hochschule der Bildenden Künste Saar, Saarbrücken, Januar 2002

Als „durch und durch kommerziell“ beschrieb der Kritiker Eduard Beaucamp den Kunstbetrieb zu Beginn des 21. Jahrhunderts und löste nicht einmal leisen Widerspruch aus, geschweige denn Protest. Entspricht seine Beobachtung den Tatsachen, würden im Kunstbetrieb vornehmlich Gegenstände zirkulieren, deren Warenwert Vorrang vor allen möglichen anderen Werten hat, dem ästhetisch-künstlerischen zum Beispiel. Dem Moment der maximalen Verkäuflichkeit gelte infolgedessen das höchste Interesse (der Künstler wie der Abnehmer). Obwohl der zitierte Kritiker linker Neigungen unverdächtig ist, bestätigte er nur, was antibürgerliche Analysten in den wild bewegten sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts der Kunst à la mode bereits damals nachsagten. Nicht allerdings, ohne dass sich massive Ablehnung äußerte.

War denn nicht gerade die Avantgarde unter strikt anti-kommerziellem Vorbehalt angetreten? Theodor W. Adorno pries die Haltung der „Verweigerung“ gegenüber kommerziellen Verlockungen auch als moralische Größe. Selbst die weitgehend amerikanisch inspirierte Konzept-Kunst hatte sich zum Ziel gesetzt, das vertraute Vermittlungssystem der Kunst zu unterminieren, indem sie ungewohnte Vermittlungsträger wie Fotografie, Film und Video zu nutzen versuchte. Spätestens aber seit die früher eher kunstignorante Wirtschaft die Gegenwartskunst als geeignetes Werbemittel und eine wachsende Anzahl von Sammlern auch noch ihr spekulatives Potential entdeckt haben, hat sich der antikommerzielle Supcon der Kunstszene verflüchtigt. Die zeitgenössische Kunst erfreut sich steigender Preise – mit partiellen Einbrüchen in der Wertschöpfung wie die Börse -, und der Kunstbetrieb unterscheidet sich vom Show-Business allenfalls noch durch seine vergleichsweise schlechte Repräsentanz in den Massenmedien. Nicht zufällig haben sich Fotografie, Film und Fernsehen neben – und im musealen Ansehen vor – den herkömmlichen Techniken auch in der Kunst etabliert, niemand bestreitet den technischen und elektronischen Medien mehr ihre Kunstfähigkeit.

In dieser Entwicklung einen Paradigmenwechsel zu erblicken, ist sicherlich nicht falsch. Vor allem haben sich die Parameter der künstlerischen Orientierung verschoben, obwohl das niemand offen eingesteht. In dem Maße, wie die Verkäuflichkeit ein wesentliches Kriterium des künstlerisch-ästhetischen Bestrebens wird, entfernt sich die Kunst von den Kategorien der Moderne, die außer der prinzipiellen Autonomie des Kunstwerks lediglich noch die Verwirklichung der subjektiven künstlerischen Imagination einbegriffen haben. Vom künstlerischen Ich als einem grundsätzlich frei handelnden Subjekt hat sich der Brennpunkt der künstlerischen Praxis auf die mehr oder minder bereitwillige Erfüllung der Erwartungshorizonte von Kunsthändlern, Kritikern, Museumsleuten und Sammlern verlagert. Statt Subversion ist Anpassung angesagt. So trug man in der Malerei der jüngeren Zeit Streifen, mal vertikal, mal horizontal, farbig und schwarz-weiß, und favorisierte in der Fotografie wandfüllende Landschaften oder Blumenstillleben. Trotz ihrer scheinbaren Motiv- und Ausdrucksvielfalt gab sich die jeweils zeitgenössische Kunst auf den Kunstmärkten der Welt seltsam einheitlich, das Dekorative war Trumpf.

Gleichwohl wäre es in historischer Hinsicht unzulässig, die Wendung der Dinge, welche die Kunst genommen hat, als etwas vollständig Neues auszurufen. Sie belegt vielmehr zunächst nur das Ende eines Kapitels der Kunstgeschichte, eines von vielen, nämlich des Kapitels der Moderne. Bislang hat man die künstlerische Sphäre der Moderne beinahe ausschließlich aus der Perspektive der avancierten Kunst und ihrer blendenden Propaganda betrachtet. Als sie die Kunst der Vergangenheit den gleichen unwandelbaren Prinzipien des ästhetischen Selbstbezugs verpflichtet gewesen wie die Kunst der Moderne, Tizian ein Vorläufer Robert Rymans. Und die Geschichte der Kunst erschien wie selbstverständlich als eine „Erfolgsstory“ der künstlerischen Emanzipation, gipfelnd in der Avantgarde. Die Behauptung des Kunsthistorikers Martin Warnke, nicht die Künstler hätten sich mit dem Aufkommen der Industriellen Revolution und dem Entstehen des kapitalistischen Bürgertums aus der feudalen Fron der Auftragsfesseln befreit, die sie zuvor von der ungehemmten Entfaltung ihrer Vorstellungen abgehalten hätte, sondern die führenden Gesellschaftsschichten hätten sie im Gegenteil aus ihren einstigen Verpflichtung aus Mangel an Bedarf entlassen, ist andererseits keineswegs aus der Luft gegriffen.

In gewisser Weise haben sich die Künstler tatsächlich allein zu sich selbst befreit, und die Aufgaben, die ihnen einst im gesellschaftlichen Verkehr zufielen, gingen an Vertreter weniger prestigegesättigter Professionen wie Marktschreier, Gaukler, Guckkasten- und Dioramenbetreiber über, aus denen dann die Werbegrafiker, die Fotografen und Filmproduzenten im weitesten Sinne, die Entertainer und die kommerziellen Kommunikationsdesigner wurden. Zwar beäugt der Kunstbetrieb diese nach wie vor noch mit einem leichten Überlegenheitsgefühl, doch die Abwehrfront bröckelt längst, weil sich die Gemeinde der Kunst-Kunst-Anhänger beständig verringert und auch die relativ eingeschränkten Möglichkeiten einer unabhängigen Kunstpraxis aufgrund fehlender gesellschaftlicher Resonanz erschöpfen.

Nicht allein, dass die kommerzielle Sprache der Konsumkultur die Werke der ambitionierten Kunst inspiriert und mit einer Vitalspritze versehen hat – die profiliertesten Repräsentanten der fotografischen und filmischen oder der Zunft der Videoclip-Entwerfer haben sich im Einverständnis mit den kulturellen Eliten bereits weitgehend den Status künstlerischer Legitimation erworben, und es wird kaum noch geraume Zeit dauern, bis auch die erfolgreichsten Werbedesigner sich die Bildwände der Museen erobert haben, wobei sie sich ohnehin schon auf den Spuren der bekanntesten Modedesigner bewegen. Mit der Konsequenz für die zeitgenössische Kunstszene, dass sich der Künstlerberuf tief greifend verändern und das, was an den Kunsthochschulen als „freie Kunst“ gelehrt und in Ehren gehalten wird, sich alsbald in ein Erinnerungsgut der Kunstgeschichte verwandelt. Damit verlöre die „klassische“ Kunstakademie ihre Rechtfertigung. Für die Kunst gleicht sich die Gewinn- und Verlustrechnung indes aus, hier zählen qualitative Maßstäbe, die sich natürlich auch zugleich mit der Umwälzung auskristallisieren, soweit sie nicht beständig seit Urzeiten variieren. Der bedeutende Kunsthistoriker Erwin Panofsky, der Liebhaber und ein außerordentlicher Kenner des Kinos war, charakterisierte den Unterschied zwischen kommerzieller und nicht-kommerzieller Kunst einmal so: „Wenn man indes alle Kunst als kommerziell definiert, die primär nicht den Gestaltungsdrang ihres Schöpfers befriedigen, sondern den Ansprüchen des Auftraggebers oder des Käuferpublikums entsprechen soll, dann muss man sagen, dass nichtkommerzielle Kunst mehr eine Ausnahme als eine Regel ist, und eine ziemlich neue und nicht immer glückliche Ausnahme obendrein. Sicher ist kommerzielle Kunst stets in Gefahr, als Hure zu enden, aber ebenso sicher ist nichtkommerzielle Kunst in Gefahr, als alte Jungfer zu enden.“

© Klaus Honnef

Die Kunst verändert ihr Gesicht. Das Documenta-Archiv in Kassel erinnert mit einer Ausstellung an die legendäre Documenta 5 von 1972 (2001)

Die Welt, 5. Dezember 2001

Der Katalog ist so unhandlich wie ein Sack Ziegelsteine. Er gemahnt bewusst an einen überbordenden Aktenordner. Auf seiner orangefarbenen Plastikhülle hat der kalifornische Multimediakünstler Ed Ruscha kunstsinnig eine Handvoll Ameisen in Form einer „5“ verstreut. Das monströse Prachtstück begleitete die fünfte Documenta und ist ihr einziges noch existierendes Zeugnis. Tun als ob, war die Sache von Harry Szeemann, Schweizer „Generalsekretär“ der internationalen Kasseler Großveranstaltung anno 1972 nicht, den seine spektakuläre Ausstellung „When Attitudes Become Form“ in Bern für die Documenta empfohlen hatte. Er und seine Mitarbeiter standen auf Substanz. Auch der Doppeltitel „Befragung der Realität – Bildwelten heute“ ließ keinen Zweifel an der angestrebten Ernsthaftigkeit aufkommen. Die kommerzielle „Eventkultur“ hatte die Kunstsphäre noch nicht vollständig aufgesogen.

Vielleicht gilt deshalb die lapidar als „d 5“ apostrophierte Documenta dreißig Jahre später als das – je nach Einstellung – wichtigste, beste, bedeutendste, zukunftsträchtigste oder auch schönste sämtlicher internationalen Kunstereignisse von Kassel. Ein Mythos ist sie allemal. Von Arnold Bode ins Leben gerufen, um in den Ruinen der örtlichen Museen die Deutschen über die avancierten Wendungen der zeitgenössischen Kunst zu unterrichten, von denen das Naziregime sie abgeschnitten hatte, ist die Documenta nach zehn Neuauflagen trotz heftiger Konkurrenz von Biennalen, Kunstmärkten und sonstigen pompösen Manifestationen der Gegenwartskunst zur unbestritten ersten Adresse im internationalen Kunstbetrieb aufgestiegen. Und die „documenta 5“ hat die Weichen dazu gestellt.

Im Rückblick erscheint sie als letztes Leuchtfeuer der Avantgarde, und der ungeschlachte Katalog dient jüngeren Kuratoren längst als unerschöpflicher Steinbruch, aus dem sie sich mit Anregungen und Bausteinen für eigene Projekte versorgen. Einige wie Catherine David, künstlerische Chefin der jüngsten Heerschau der Kunst im Jahre 1997, berief sich ausdrücklich auf die „d 5“ und erweckte geraume Zeit den Eindruck, auch sie habe sie gesehen. Bis sie auf bohrende Nachfragen einräumen musste, dass sie ihre Eindrücke nur vom Hörensagen hatte. Anderen vergoldet die chronologische Distanz die Erinnerung.

Die Reaktion der Zeitgenossen auf die fünfte Documenta fiel hingegen herber aus. Die meisten Kunstkritiker hielten mit ihrer Ablehnung nicht hinterm Berg, und die Zahl der Besucher blieb weit unter dem Horizont der Erwartungen. Zu heftig kollidierte das Gezeigte mit den umläufigen Vorstellungen über Kunst. Der von vielen derweil als „genial“ gerühmte Generalsekretär wurde sogar auf finanziellen Regress verklagt. Und erst Hans Eichel, der neue Oberbürgermeister in Kassel und gegenwärtig deutscher Finanzminister, befreite ihn aus der existentiellen Bedrohung.

Was verschafft der „documenta 5“ gleichwohl ihren einzigartigen Nimbus, so dass sie ihre Vorgängerinnen und Nachfolgerinnen überschattet? Das intelligente Konzept, die stupende Qualität der Kunstwerke, die Kühnheit ihres Entwurfs, die klangvollen Namen der Künstler, die einfallsreiche Inszenierung?

Ich bin dabei gewesen, als Kurator, und vermag es dennoch nicht zu sagen. Vermutlich war es von allem etwas. Doch namentlich die krude Mischung aus bestechend klaren und ungeheuer verrätselten, aus Werken in vertrauter und solchen in unkonventionell provozierender Manier, aus Kitsch und Kunst, Plakaten und Untergrundfilmen, aus Information und Chaos, aus Protest und Affirmation, aus Rationalität und Unübersichtlichkeit, gekrönt von Szeemanns ingeniösem Einfall das, was sich nicht mehr auf einen Nenner bringen ließ, als „individuelle Mythologien“ auszuflaggen, befeuert den immer noch wachsenden Nachruhm. Die elitären Vertreter der Konzept-Kunst fanden sich unter dem Banner der „parallelen Bilderwelten“ (Bazon Brock) unversehens mit dem damals berühmten Werbefotografen Charles Wilp wieder, Joseph Beuys mit dem Plakatkünstler Klaus Staeck, die europäischen Selbstdarsteller mit den Fotorealisten aus den USA und die Maler mit Künstlern, die der Malerei das Ende prophezeiten. Ausschlaggebend ist letzten Endes aber wohl der Umstand, dass das Gros der seinerzeit noch recht unbekannten Künstlerinnen und Künstler der „d 5“ inzwischen die Kunstszene repräsentieren.

Zusammen mit dem Düsseldorfer Galeristen Konrad Fischer, der als Konrad Lueg mit Gerhard Richter und Sigmar Polke den „Kapitalistischen Realismus“ ausgerufen hatte, zeichnete ich für die Abteilung „Idee und Idee-Licht“ verantwortlich. Szeemann und, an seiner Seite, Jean-Christophe Ammann hatten mir zwar einen selbständigen Beritt angeboten – „Prozess-Kunst“ –, aber nach knapp drei Jahren Ausstellungspraxis zog ich eine Kooperation mit dem erfahrenen Fischer vor, zumal mich die Ideen- oder Konzept-Kunst stärker interessierte als die Arte povera und verwandte Tendenzen. Vier Wochen hat es gedauert, bis wir die vier Räume auf der Beletage des Fridericianums nach unserem Gusto eingerichtet hatten, darunter die wahre „Kathedrale“ der „d 5“ mit einem großen Zirkel aus Natursteinen von Richard Long in der Mitte und den Zeichnungen Hanne Darbovens und Sol LeWitts, den Gemälden von Robert Ryman sowie den Fotoreihen Bernd und Hilla Bechers an den Wänden. Neben Richard Serras grandioser Raum-Installation einen Saal weiter und Panamarenkos riesigem Luftschiff sowie Bruce Naumans beklemmendem Korridor die zentrale Attraktion der wie stets zu umfangreichen Documenta.

Unbeschadet der üblichen Hektik und des massiven Drucks, den Kunsthandel und Künstler auf die Organisatoren ausübten, und der Streitereien um die besten Plätze vermochten Szeemann und Ammann eine entspannte und heitere Arbeitsatmosphäre zu entfalten. Jede Entscheidung wurde sorgfältig besprochen, intensiv, auch kontrovers diskutiert, und manchmal schlief ich nachts in Harrys Büro nahe bei der Neuen Galerie im Sessel ein, während er sich auf den Schreibtisch bettete. Jeder von uns war überzeugt, dass wir mit der „d 5“ das Gesicht der Kunst verändern würden.

Doch der Gegenwind war scharf. Allein die Säle mit den Bildern der Fotorealisten erfreuten sich verbreiteter Zustimmung, und selbst einen Intellektuellen wie Jürgen Habermas zogen zu meiner nicht geringen Enttäuschung, wie er mir gestand, die großformatigen Foto-Gemälde stärker an als die zerebralen Demonstrationen der Konzept-Artisten, mit denen er nichts anfangen konnte. Der amerikanische Kunsthandel indes zögerte nicht. Leo Castelli sicherte sich die Konzept-Künstler für seine Galerie und Ileana Sonnabend die Bechers und andere für die ihre. Seit der „documenta 5“ sind Texte, Fotografien, Drähte, Filzstoffe, Wackersteine, Asche, absonderliche Gegenstände sowie gewaltige Stahlwände selbstverständliche Werkstoffe der Kunst, nicht weniger als Farbe, Leinwand, Marmor und Holz. Kurzum: die „d 5“ feierte die Apotheose und das Ende der künstlerischen Avantgarde zugleich. Später ist nichts wesentlich Neues mehr in der Kunst passiert.

© Klaus Honnef