Immer alles auf Anfang. Zürichs Kunsthaus zeigt das Gesamtwerk des Malers. Bis heute ist er vital und originell geblieben (2005)

Die Welt, 13. April 2005

Künstlerische Leistungen nach sportlichen Maßstäben zu beurteilen, gilt als unschicklich. Dabei sind die Beziehungen zwischen Kunst und Sport enger, als die meist peinlichen Ausstellungen anlässlich olympischer Spiele ahnen lassen. Und seit die Künstler wichtiger als die Werke sind, spitzt sich der "Paragone", der Wettstreit um den Vorrang nicht mehr auf die "mediale" Frage zu, ob Malerei oder Skulptur den Sieg davon tragen, sondern zeigt sich im Verhältnis der Urheber selber. So verwundert es auch nicht, dass Sigmar Polke den "Aufschlag" des anderen deutschen Weltkünstlers Gerhard Richter, einst Partner und Freund und derzeit mit vier Ausstellungen präsent, angenommen und dank eines brillant platzierten "Returns" souverän beantwortet hat. Im einflussreichen Kunsthaus Zürich schlägt das zweite künstlerische Imperium jetzt mit einer umwerfenden und zugleich exklusiven Schau zurück.

Schon ihr Umfang übertrifft den Rahmen, der rasch verglühenden Kometen des Kunstgeschehens gewöhnlich gesetzt wird. Zwar beschränkt er sich mit 1200 Quadratmetern Fläche auf ein kleineres Areal als die Düsseldorfer Kraftprobe des Kontrahenten, dafür enthält die Ausstellung viele brandneue Gemälde von beträchtlichem Format, und sie vereint zum ersten Mal die gemalten und die fotografischen Bilder des Künstlers. Sigmar Polke präsentiert sich hier in Bestform. Obwohl er mit schnellen Schritten auf das offizielle Rentenalter zusteuert, hat seine Kunst nichts von ihrer sprudelnden Vitalität, geistigen Frische, visuellen Phantasie, ästhetischen Provokation und nachhaltigen Wirkung verloren. Von Alterswerk keine Spur.

Unvermindert treibt den blitzgescheiten Künstler die unbezähmbare Neugierde um, gepaart mit höchster Risikobereitschaft. Nicht einmal vor der Gefährdung der eigenen Person macht er halt. Polke geht jedes Risiko ein – intellektuell, ästhetisch, technisch und physisch. Nicht selten hat er Pigmente für seine Gemälde verwendet, deren unkontrollierter Gebrauch – "gehaucht, gepustet, gewischt und poliert", wie es in den Legenden einiger Gemälde heißt – zu gesundheitlichen Schäden führt. Ein Preis, den der Künstler bereitwillig entrichtet, um der Malerei völlig neue farbliche Kraftfelder und bis dahin nicht gekannte Ausdrucksmöglichkeiten zu erschließen. Das so ermüdend häufig beschworene Ende der Malerei? Bei Polke steht alles immer auf Anfang.

Kein Zweifel – dieser Maler gehört noch als später Nachfahr einer Generation der großen Entdecker in der Kunst an. "Ich suche nicht, ich finde", hatte Picasso einmal – ich glaube zu Brassaï – gesagt. Mit unersättlicher Experimentierlust geht Polke vor, und er scheut sich nicht, höhere Wesen als Inspirationsquelle zu benennen, noch "Tischerücken" (1981) zum Bildmotiv zu erheben; häufig begleitet von ironischem Augenzwinkern, das sich mitunter zu beißender Ironie steigert.

"Financial Freedom While Helping" (2003) ist der Titel eines in Mischtechnik auf Stoff realisierten Gemäldes, auf dem die modernsten Schnellfeuerwaffen, sorgfältig arrangiert für die üblichen Mörderbanden, in grob aufgerasterter Form der Abbildung zum Kauf angeboten werden, überglänzt vom goldenen Schimmer der Farbe mit gelegentlichen Einsprengseln giftigen Grüns und Rosas. Dargestelltes und Darstellung agieren in scharfem Kontrast, und die bodenlose Spannung sorgt wenigstens für einen Anflug von Gänsehaut bei den Betrachtern.

Wie der Künstler mit unverhohlener Leidenschaft sämtliche Himmelsrichtungen des Globus bereist, erkundet er auch das Reich der unterschiedlichsten Bildwelten; und wie er in die Bazare der fremden Länder eintaucht, um bizarre Dekorationsstoffe für den Einsatz in seinen Bildern zu erwerben, setzt er sich über die Grenzen der hierarchischen Grenzen der westlichen Kultur hinweg und verbindet unbekümmert Oben und Unten, das Anspruchsvolle und das Triviale. Nach dem Schema des Goldenen Schnittes der Klassischen Malerei auf der transparenten Leinwand von "Hüter der Schwelle" (2005) nach rechts gerückt, jagt in riesenhaft aufgeblasener fotografischer Abbildung eine weibliche Nackte zwei männliche mit einer Mistgabel lachend auf die Betrachter zu. Unterdes wird hinter der sonst durchsichtigen Bildfläche das Lattengerüst des Gemäldes mitsamt der bloßen Wand sichtbar. Es ist verblüffend, welche Fülle widersprüchlichster Eindrücke sich entfaltet, wenn man sich mit dem Bild im buchstäblichen Sinne des Wortes "aus-einander-setzt", körperlich und geistig, das in der fotografischen Reproduktion nur banal ist.

Das Begriffsbesteck der kunstkritischen Analyse erweist sich angesichts der Bilder Polkes regelmäßig als unbrauchbar. Entsprechend stürzt der Künstler die Besucher seiner Ausstellung in ein phasenweise haarsträubendes Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Es sei denn, sie gelangen nach Absolvierung seines Bilderparcours zu der Erkenntnis, dass Sehen keine passive und risikolose Angelegenheit ist.

Doch Vorsicht muss beständig üben, wer sich vor den versteckten Bildfallen wappnen will. Nicht von ungefähr markiert ein überdimensionales "Schattenkabinett" (2005) mit Silhouetten von Tiergestalten eines Spielzeugzirkus', die sich auch in anderen Gemälden einfinden, den Auftakt der von Bice Curiger glänzend aufgebauten Hindernisstrecke. Manchmal erscheint die sichtbare Welt wie eine Projektion in Schwarz-Weiß-Malerei. Gleichsam als Wendeboje grüßen "Hütchenspieler" (1998) in Gestalt eines schrecklich schönen Polyester-Harz- und Ölgemäldes ohne Wandbindung, von der Rückseite durch ein Fenster erleuchtet, und warnen, dass nicht alles, was man zu sehen glaubt, auf den Bildern auch tatsächlich vorhanden ist. Eine Art vergrößerter Briefmarke im polketypischen Rasterstil feiert den Schutzpatron der Alchemisten, "Hermes Trismegistos I" (1995): die offene Hommage des zeitgenössischen Meisters der ästhetischen Tricks an den mittelalterlichen Meister der Lüge, der Subversion und der Tiefsinnigkeit. Mit ungeheuer anspielungsreichen Bildern demonstriert Polke lustvoll die Wahrheit der Kunst als Summe ihrer Lügen. Am Medium Fotografie hat ihn deshalb die chemische Seite und die "Magie" des latenten Bildes bei der Bild-Entwicklung stärker interessiert als seine sonst gerühmte Fähigkeit authentischer Realitätswiedergabe. Auch wenn er sich ihrer einfallsreich zu bedienen weiß, wie es die bestechenden Serien fotografischer Bilder in der Ausstellung und die Aufnahmen eines in den originellen Katalog eingearbeiteten Künstlerbuches schlagend dokumentieren. Fotografie oder Malerei – die Differenz ist für Sigmar Polke nicht der Rede wert. Nach der grandiosen Schau im Züricher Kunsthaus steht es in der Ideal-Konkurrenz zwischen Sigmar Polke und Gerhard Richter wieder unentschieden. Der Rest ist Geschmackssache.

© Klaus Honnef