Herold eines postmodernen Biedermeier. Die Fotografie ist auf dem besten Wege, in gefälliger Harmlosigkeit zu versinken (2002)

Die Welt, 24. April 2002

War die Avantgarde nur eine kapriziöse Laune der Kunst? Mit der Absicht, das Publikum zu verlachen? Sind ihre Verächter zu Unrecht als Reaktionäre gebrandmarkt worden? Hat sich ein mafiotisch operierender Kunstbetrieb verschworen, mehr als ein Jahrhundert lang die wahren Kunstwerke zugunsten leichtgewichtiger Kunstmätzchen zu unterdrücken? Wer sich so unbefangen wie überhaupt möglich in der zeitgenössischen Kunstszene umtut, vermag solche oder ähnliche Fragen kaum noch zu verdrängen. An den makellos weißen Wänden vieler privater und öffentlicher Galerien prangen Bilder von Blumen in leuchtenden Farben, atemberaubende Landschaften lassen im Riesenformat grüßen, alltägliche Gegenstände finden sich in bestechenden Arrangements und Menschen in sorgfältig inszenierten Posen. Die traditionellen Gattungen der Kunst, Porträt, Landschaft, Genre und Stillleben, die überlieferten Konventionen der Malerei, triumphieren über Montagen und Installationen. Als hätten Fauvismus, Expressionismus, Kubismus, Dada, Happening und Antikunst sie niemals mit ungeheurer Wucht verformt oder gar zertrümmert. Mit dem Unterschied allerdings, dass die alten Zöpfe im Medium Fotografie ihre Renaissance erleben.

Ausgerechnet in der Fotografie. Deren Kredit und Erfolg speiste sich einmal aus dem Umstand, dass sie die Welt der Bilder unmittelbar mit der sichtbaren Wirklichkeit samt ihren Schattenseiten verknüpfte. Einflussreiche Künstler der Avantgarde waren überzeugt, mit Hilfe fotografischer Technik dem, was man für eine nicht hintergehbare Wahrheit im individuellen und kollektiven Dasein hielt, näher zu kommen als mit den „historisch überholten“ handwerklichen Mitteln der Malerei und wechselten die Seiten. Später entdeckte man umgekehrt in zahlreichen professionellen Fotografen regelrechte Künstler. Augenscheinlich befriedigte die Fotografie den Hunger nach Wirklichkeit, den die Gesellschaft des Industriezeitalters erfüllte, und erweiterte das Spektrum ihrer Wahrnehmung. In fotografischen Bildern entdeckten die meisten US-Amerikaner das eigene Land, mit fotografischen Bildern prangerten engagierte Bildreporter soziale Missstände an und beförderten Maßnahmen zur Abhilfe, fotografische Bilder vom Krieg brannten sich in das allgemeine Bewusstsein und untergruben die Behauptung der Propaganda, dass es süß sei, für das Vaterland zu sterben. Von Fotografie als Waffe im politischen Streit war die Rede, und Siegfried Kracauer, der große Kulturkritiker, meinte, wenn Fotografie überhaupt eine Kunst sei, dann eine, die ihren Stoff im Gegensatz zu einer selbstbezüglichen Kunst nicht völlig verzehre.

Seit die Fotografie das Terrain der Malerei, ja der Kunst schlechthin, erobert und sich als neue Königsdisziplin in den Galerien und Museen etabliert hat, erscheint ihr diese Vergangenheit schon beinahe so peinlich wie dem Partygänger der Schmutzfleck auf seinem Smokinghemd. Zugleich schickt sich die Fotografie der Künstler an, sämtliche vorgeschobenen Positionen der zeitgenössischen Kunst rückgängig zu machen – vom Entwurf der abstrakten Malerei bis zur „Ausfransung“ (Theodor W. Adorno) in flüchtige Erscheinungsformen, die nur noch ein zersplittertes Bild der Wirklichkeit übermittelten.

Bei genauerer Betrachtung ist die Großbildfotografie der Gegenwartskunst tatsächlich nicht frei von Spuren eines ästhetischen Revisionismus. Nicht nur, dass sie völlig unverfroren die harmlosen Motive vergangener Kunstidyllen wiederbelebt und zu überwältigenden Dimensionen aufbläst. Auch die Sicht auf die abgelichtete Welt ist häufig ebenso wenig von des kritischen Gedankens Blässe angekränkelt wie die Art und Weise, in der ihre Gegenstände vergegenwärtigt werden. Während die Dinge ringsum aus dem Ruder laufen und ethische und moralische Grundsätze im Sog kommerzieller Interessen ihren bindenden Charakter verlieren, fotografieren die Stars der deutschen Kunstszene Bäume, Blumen, adrette Straßenpassanten, Häuschen und Lampenschirme, schicke Pornos mit Weichzeichnerlinse und die Lichter der Großstädte aus der Vogelperspektive. Die Welt in diesen fotografischen Bildern ist schön wie auf der Fototapete im nächsten Thai-Restaurant. Der Begriff „Kitsch“ hat seine abschreckende Wirkung eingebüßt, und der eventsüchtige Kunstbetrieb applaudiert erleichtert.

Endlich vorbei die Zeit einer problemorientierten Kunst mit ihren anspruchsvollen und spröden Zeugnissen. Die Großfotos verkaufen sich blendend. Die Sammler rangeln, wie Kunsthändler auf der letzten Art Cologne berichteten, um die in kleinen Auflagen produzierten Bilder. Selbst die harten Marktests der jüngsten Auktionen in New York und London bestanden sie allen Unkenrufen zum Trotz glanzvoll. Manche mit frischen Rekordpreisen. Die amerikanische Kunstkritik hat eine „Neue Düsseldorfer Schule“ ausgerufen, weil die erfolgreichsten der Fotokünstler an der dortigen Kunstakademie bei Bernd Becher studiert haben, und verleiht in Anspielung auf die Namen ihrer prominentesten Vertreter Andreas Gursky, Thomas Ruff und Thomas Struth der Gruppe spöttisch die Trademark „Strutzkys“. Die deutsche Kunstkritik sieht hingegen einen neuen Akademismus heraufdämmern.

Eine Ausstellung des Düsseldorfer Museums Kunst Palast unter der verkorksten Schlagzeile „heute bis jetzt“ demonstriert nachhaltig, dass sich so etwas wie Wirklichkeit allein in den störenden Reflexen der Betrachter auf den spiegelnden Oberflächen der flächendeckenden Aufnahmen einstellt. Lediglich die Bilder von Hilla und Bernd Becher, Candida Höfer, Ruff und Gursky zeigen den Willen, dem schönen Schein der Bilder einen doppelten Boden einzuziehen. Wo sich das Elend der Kriege in Nah- und Fernost zur erlesenen Dekoration in Schwarz verfeinert, die Straße als Laufsteg entpuppt und das Meer bloß noch an Yves Kleins blaue Gemälde denken lässt, triumphiert die Technik über die Kunst. Die Subjektivität der künstlerischen Identität bleibt auf der Strecke. Während das Museum zum Schaufenster des kommerziellen Handels verkommt, erweist sich die Fotografie als Herold eines postmodernen Biedermeier. Gleichwohl werden die Künstlerfotografen in dieser sterilen Schau unter Wert verhökert.

© Klaus Honnef