Die Welt, 13. Mai 2004
Er kam vom Himmel im modernen Heldendress und verkündete zur besten Fernsehzeit auf einer schwimmenden Festung das Ende der Kämpfe. Seine bildbewussten Helfer inszenierten den amerikanischen Präsidenten als Wiedergänger des Heilands christlicher Mythologie. Ob sie die Kameras der ausgewählten Sender vordergründig nach dem Muster eines Hollywood-Spektakels, Tony Scotts „Top Gun“, postierten, ist nebensächlich. In Wahrheit beschworen sie wie der Filmregisseur weit ältere Bilder, Bilder der Kunst, Bilder des Mensch gewordenen Gottessohns, der mit seinem leiblichen Tod die Menschheit erlöst hat, um am jüngsten Tag auf die Erde zurückzukehren und den Gerechten den Weg ins Paradies und den Ungerechten den abschüssigen Grat in die Hölle zu weisen. Kirchenfürsten und Klosterherren hatten sie einst in Auftrag gegeben. Vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne erfüllten sie die Aufgabe, die Heerschar der Gläubigen zu einem ehrbaren und gottesfürchtigen Leben anzuhalten.
Und wie die kundigen Bilderproduzenten im Dienst des angeblich mächtigsten Herrn der materiellen Welt wandten ihre Urheber, die großen Maler ihrer Zeit, alle verfügbaren Kniffe der Bildrhetorik an, die Adressaten der Botschaft ihrer Bilder mit der Macht ihres Bildvortrags zu beeindrucken, zu überreden, gegebenenfalls zu überwältigen, und sie scheuten sich nicht, Furcht und Schrecken zu säen. Gerade einmal ein Jahr nach der Friedensbotschaft hat das Bild des säkularen Heilsbringers empfindliche Risse bekommen. Nicht allein, weil es zu den tatsächlichen Verhältnissen im angeblich befriedeten Land in schreiendem Gegensatz steht. Seine Wirkung haben vielmehr andere Bilder gebrochen, Bilder von Menschen, die ihrer Würde gänzlich beraubt worden sind, und nebenbei den zutiefst blasphemischen Charakter der Bilder des profanen Fliegergottes enthüllen. Niemand bezweifelt, dass die fotografischen Aufnahmen der Folterungen irakischer Soldaten authentisch sind.
Doch es ist weniger ihre Echtheit, die ihnen die ungeheure Eindrucksmacht verleiht, sondern die Art der Inszenierung des Entsetzlichen. Dadurch erscheint die Tat doppelt verwerflich. Die Autoren der Bilder haben ihre unbekleideten Opfer augenscheinlich für die Optik der Kamera zugerichtet, und es ist wohl unzweifelhaft, dass die grausamen Bilder von vorneherein zur Veröffentlichung bestimmt waren.
Einige der Fotografen bezeugen ein ebenso profundes Gespür für prägnante Bildwirkungen wie die Regisseure ihres Präsidenten. Auch diese Bilder verdanken sich bezeichnenderweise dem Repertoire der Kunstgeschichte, gleichgültig, ob sie bewusst oder unbewusst in Anspruch genommen wurden, und es ist der bitteren Ironie des Weltgeistes geschuldet, dass sich die Darstellungen der erbarmungswürdigen Wesen in menschlicher Gestalt auf denselben apokalyptischen Bildern befinden, auf denen der Weltenrichter die Guten von den Bösen scheidet.
Als die Verdammten tauchen sie dort auf, teils mit fratzenhaften Köpfen versehen, teils an der Leine geführt wie Hunde, ihre Körper zu Pyramiden gehäuft und meistens nackt. Haben die Fotografen das unvollständige Bild der Regisseure des Präsidenten also letztlich nur im Geiste der apokalyptischen Gemälde von Künstlern wie Stefan Lochner oder Hieronymus Bosch unfreiwillig ergänzt, nicht wissend, dass die Vorstellungen, die sich in ihnen spiegeln, kraft historischen Wandels relativiert worden sind und inzwischen nicht bloß in muslimischen Gesellschaften Wut und Fassungslosigkeit provozieren? In der Logik einer Doktrin, die sich auf die fundamentalistische Idee eines Kreuzzuges gegen „Schurkenstaaten“ beruft, wäre die Vermutung nichts desto weniger nahe liegend. Gleichwohl drohen die schrecklichen Bilder der gedemütigten Gefangenen das hehre Bild des Erlöser-Präsidenten allmählich auszulöschen. Dessen clevere Bildstrategen müssten schon erheblich stärkere Bilder mobilisieren, um ihren verheerenden Eindruck noch neutralisieren zu können. Etwa das Bild eines Kniefalls, wie ihn der deutsche Kanzler Willy Brandt in Warschau vollführte, oder Bilder aus der Leidensgeschichte Christi.
Woher aber rührt die ungeheure Eindrucksmacht der Bilder über die Wahrnehmung der Menschen? Das Zeitalter der Fotografie, des Films und des Fernsehens hat sie, wie mitunter behauptet wird, nicht erfunden, sondern nur in ungeahnter Weise verbreitet und verstärkt. Bereits der erste römische Kaiser vermochte mit Hilfe eines ausgeklügelten Bild-Programms die vorwiegend republikanisch gesonnenen Bürger seines Imperiums zu treuen Anhängern des monarchischen Prinzips zu machen. „Augustus und die Macht der Bilder“ lautet der Titel eines aufschlussreichen Buches des Archäologen Paul Zanker, das den Prozess schildert.
Gerade die Bilder mit mythologischem Bodensatz und hoher Symbolkraft, die namentlich amerikanische Quellen gern lancieren, um militärische Siege zu illuminieren, und deren grauenhafte Pendants häufig die Siege in politische Niederlagen verwandeln, sind tiefer im psychischen Haushalt der Menschen verankert als gemeinhin vermutet wird. Bilder wie jenes des weinenden napalmverbrannten nackten Mädchens auf einer Straße in Vietnam standen am Anfang des Rückzugs der amerikanischen Soldaten aus dem südostasiatischen Land, andererseits Bilder der stürzenden Türme des World Trade Centers in New York, der Türme des modernen Babylons, am Beginn des „Krieges gegen den Terror“.
Auch inflationärer Gebrauch durch ständige Wiederholung in den Massenmedien mindert ihre Macht nicht. Es scheint im Gegenteil, als ob ständige Wiederholung und Variation sie seit ihrem ersten Aufleuchten in vorhistorischen Epochen den menschlichen Genen eingeschliffen hätten und sie nach entsprechenden Impulsen stets von neuem ihre Gewalt über das Denken entfalten würden. Vor der irrationalen Macht dieser Bilder offenbart die Rationalität der Sprache, lehrte der Kunsthistoriker Ernesto Grassi, regelmäßig ihre Ohnmacht.
© Klaus Honnef