Wer fürchtet sich vor „DDR“-Kunst? (2001)

Kulturreport. Vierteljahreshefte des Mitteldeutschen Kulturrats, Bonn 2001

Im Westen Deutschlands eher verdrängt als vergessen, im Osten für viele noch immer Gegenstand widerstreitender Empfindungen und Ansichten, ragt die DDR wohlfeilen Dementis zum Trotz wie ein schwarzes Loch ins deutsche Bewusstsein. Und es ist nicht ausgemacht, ob mit sich verstärkender oder abschwächender Energie. Nicht anders ergeht es den Zeugnissen der Kunst, die auf dem Territorium der verblichenen DDR angefertigt wurden, und manchen, keineswegs allen Künstlern, die sie schufen. Nur nicht daran rühren, scheint die Devise des Kunstbetriebs zu sein. Wer es gleichwohl unternimmt, erfährt auf seine Initiative selten eine positive Reaktion, vielmehr ein müdes Achselzucken oder aber die Antwort, dass die in Frage stehenden Gemälde und Skulpturen die Bezeichnung „Kunst“ nicht verdienten, ebenso wenig wie die Machwerke nationalsozialistischer „Kunst“.

Begründet wird die pauschale Ablehnung häufig mit dem Hinweis auf die vermeintlich von jeder äußeren Intervention freie Entwicklung der Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der westlichen Hemisphäre, wie sie sich in den repräsentativen privaten und öffentlichen Sammlungen manifestiert. A priori wird unterstellt, dass die Kunst in der DDR beständig außer-künstlerischer, sprich staatlicher Kontrolle unterworfen gewesen sei, wohingegen sich die Künstler im Westen nach eigenem Gusto entfalten konnten. In der abfälligen Bezeichnung „DDR-Kunst“ drückt sich diese Haltung plastisch aus und mischt sich außerdem mit einem verbreiteten Supcon gegen die unterstellte (oder auch erlebte) Provinzialität des angeblichen „Arbeiter-und-Bauern-Staates“. Dabei lässt sich weder das eine noch das andere gänzlich leugnen, aber daraus die Konsequenz zu ziehen, der Kunst der DDR den Kunstcharakter rigoros zu bestreiten, ist zumindest im Licht der Geschichte nicht haltbar und voreilig ohnehin.

Es fällt zunächst auf, dass man es bislang vermieden hat, eine gleichermaßen kritische wie nachhaltige Diskussion über die ästhetische Problematik der entsprechenden Werke zu führen. Vereinzelte, mitunter halbherzige Versuche blieben ohne befriedigendes Ergebnis. Denn eine solche Diskussion schließt ein, sowohl den vorherrschenden Kunstbegriff der Moderne, in deren Vokabular, wenn auch nicht Namen man gerne gegen die „DDR-Kunst“ argumentiert, zu hinterleuchten, als auch die mannigfaltigen Abhängigkeiten, denen sich Kunst in einem marktorientierten Gesellschaftssystem konfrontiert sieht, unter die Sonde der Kritik zu stellen. Stattdessen stempeln die Anwälte der „West-Kunst“ – von einer „BRD-Kunst“ war allein im Osten die Rede – den Gemälden und Plastiken der „DDR-Kunst“ das Etikett des „ästhetisch und historisch Überholten“ auf und reklamieren kurzerhand für ihren Klienten den Status der Überzeitlichkeit.

Doch nicht bloß marxistisch munitionierte Analytiker vergangener Zeiten haben auch die Kunst des Westens unter der Lupe eines ideologischen Vorbehalts betrachtet. Die Praxis der Kunstmuseen in den letzten Jahren, namentlich der Institute, die der Kunst der Moderne qua Auftrag verpflichtet sind, liefern reichlich Indizien für einen Veränderungsprozess im künstlerischen Diskurs, der den postulierten Alleinvertretungsanspruch der modernistischen (westlichen) Kunst längst unterhöhlt hat. Den prinzipiellen Paradigmenwechsel zu theoretisieren hat die Kunstwissenschaft, da die Kunstkritik ausfällt, freilich erst begonnen.

Wenn der angesehene Kunsthistoriker Martin Warnke in einem umstrittenen, doch kaum reflektierten Vortrag, der auch in Essayform erschienen ist, die „Erfolgsstory“ der Avantgarde, also der museal inzwischen weithin akzeptierten Kunst beleuchtet, und ihr für die Geschichte der Kunst schlechthin lediglich die Bedeutung zuerkennt, welche die Wasserspeier für die gotischen Kathedralen besessen hätten, übertreibt er zwar in polemischer Absicht. Zugleich aber lenkt er die Aufmerksamkeit auf den „mainstream“ der zeitgenössischen Bilderwelt, der im Gegensatz zur modernistischen Kunst auf die kollektive Wahrnehmung einen prägenden Einfluss ausübt mit allen Folgerungen für das private und öffentliche Handeln, ohne dass man dieser „populären“ Bilderwelt bisher den Nimbus der Kunst verliehen hätte. Gleichwohl hält sie in immer stärkerem Maße Einzug in die Museen. Mit der künstlerischen Travestie der Unterhaltungskunst (Pop Art usw.) fing es an, mit der Fotografie setzte sich die Tendenz ungebrochen fort und mit der Übernahme des Films (Biennale 2001) findet sie ihren vorläufigen Abschluss.

Sicher - der offenkundige Paradigmenwechsel vollzieht sich hinter dem arg rissig gewordenen Vorhang eines nach wie vor von der Avantgarde installierten und proklamierten Kunstbegriffs, dessen prinzipielle Schwäche sich angesichts einer inzwischen schon verinnerlichten gegenteiligen Praxis durch den immensen Aufwand an ästhetischen Leerformeln zur Untermauerung in unlesbaren Texten verrät. Vor dem Hintergrund eines global operierenden Kunstmarktes mit wachsender Macht muss man schon mit Blindheit geschlagen sein, wenn einem entgeht, dass der Kunstbetrieb der Gegenwart „durch und durch kommerziell“ (Eduard Beaucamp) ist, dass die Museen die Funktion übernommen haben, durch Ausstellungen den kommerziellen Wertmesser zu liefern, und dass sich die Künstlerinnen und Künstler den gleichen Herausforderungen und Gefährdungen ihrer Unabhängigkeit gegenüber sehen, wie sie für den gesamten Komplex der kommerziellen Unterhaltungsindustrie gelten, deren Bestandteil der zeitgenössische Kunstbetrieb ist. Neu ist der Zusammenhang keineswegs, doch die dramatischen Veränderungen in Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Kultur während der letzten vierzig Jahre haben auch die Fragilität der modernistischen Kunst aufs Tapet gebracht und die Legende zerstört, die so genannte „autonome“ Kunst der Avantgarde sei tatsächlich restlos autonom. Ihre Freiheit war stets Behauptung und nie Realität. Dass unter dem kommerziellen Aspekt die ästhetische Qualität des künstlerischen Zeugnisses nach der These des modernistischen Kunstbegriffs zwingend leide, entbehrt indes jeder Grundlage. Jedenfalls ist der Kunstbegriff, mit dem man die „DDR-Kunst“ denunzierte, obsolet geworden.

Die Kunst der Gegenwart steht an einem Scheideweg: Ein Wegweiser zeigt in Richtung eines vorwiegend kommerziell orientierten Allotrias mit der fortdauernden Ausbeutung eines längst leer gelaufenen Programms, eines gesellschaftlichen Musters ohne Wert, der andere empfiehlt den steinigen Pfad der Anstrengung, die freiwillig aufgegebene Definitionsmacht über die Welt der Bilder, als kritischer und korrigierender Filter der kommerziellen Bilderwelt sozusagen, zurück zu gewinnen, und gerade die (figurative) Malerei spielt in diesem Zusammenhang aus den verschiedensten Gründen eine große Rolle. Nicht von ungefähr begeistern sich ganz kluge Köpfe mit der Nase im Wind für das provokante Malwerk des betagten Lucian Freud, das sie früher nie eines Blickes gewürdigt hatten, oder das Frank Auerbachs, und es bedarf keiner Prophetengabe, um vorherzusagen, dass der kommerzielle Kunstbetrieb, eben weil er kommerziell ist, auch bald, sogar im Westen, die unverbrauchte Prägnanz von Bildern entdecken wird, die in der DDR gemalt wurden. Die private Nachfrage ist ohnehin rege, und glücklich die Museen, die dann nur ihr Magazin aufsuchen müssen, um sich in den „neuen“ Trend einklinken zu können. Selbst ohne ästhetischen Diskurs wird’s die normative Kraft des Faktischen schon richten.

© Klaus Honnef