Die Welt, 3. April 2001
Immer wieder die gleiche Person, doch nie dieselbe, hundertfach, mal jünger, mal älter, hier ekstatisch bewegt, dort erstarrt, früher in phantastischem Kostüm, später im förmlichen Zweireiher, ein moderner Proteus, und nur im fotografischen Bild gegenwärtig. Jürgen Klauke ist ihr Erfinder, Regisseur und Darsteller, und dennoch hat die Figur Jürgen K. mit der Biografie ihres Urhebers ebenso wenig und soviel zu tun wie die Figur des Josef K. mit dem Schriftsteller Franz Kafka. Mitunter löst sich die Person auf gigantischen Phantombildern auf oder verschwindet, und wenn die Besucher der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn, wo das spektakuläre Schauspiel in einer umwerfenden Ausstellung (bis zum 8. Juli) zu sehen ist, den Parcours der zweihundert Bilder und Bildreihen absolviert haben, werden sie vielleicht sich selber entdecken.
„Es sind Bilder für diese oft flüchtigen, unbewussten Begegnungen mit uns selbst bis hin zu den Zulassungen oder Spaltungen – also Bilder für die Schönheit und das Grauen in uns“, versucht der Künstler die Irritationen, die seine Werke auslösen, zu rationalisieren und wirft neue Fragen auf. Es sind fotografische Bilder von bezwingender Gewalt und atemberaubender Präzision zugleich. Ein Rückblick auf mehr als dreißig Jahre künstlerischer Erforschung des Mediums Fotografie, dessen Bedingungen und Möglichkeiten kein anderer Künstler der Gegenwart so umfassend, imaginativ und intelligent ausgelotet hat wie er, und völlig zu Recht widmet die Bundeskunsthalle Jürgen Klauke die dritte ihrer seltenen monografischen Ausstellungen deutscher Künstler nach Gerhard Richter und Sigmar Polke.
Der Auftakt gibt die Leitmelodie an: ein Ensemble von acht mal zwölf fotografischen Bildern identischen Formats mit vermummten Gesichtern, wie sie seit dem Anschlag arabischer Terroristen auf die israelische Olympiamannschaft in München durch die Medien geistern. Besondere Kennzeichen keine. Zwei „Porträts“ machen grobe Rasterpunkte unkenntlich, eines könnte das Gesicht des Künstlers sein, der die Gruppe „Antlitze“ nennt und auf die Zeit zwischen 1972 und 2000 datiert. Das Phantasieprodukt eines vertrauten Betrachters? Rechts und links Beispiele aus den Werkgruppen „Pro Securitas“ (1993) und „Formalisierung der Langeweile“ (1980/81), Phantombilder aus einer Durchleuchtungsmaschine und Aufnahmen eines Kopfes, der sich in einem Eimer versteckt. Das fotografische Bild hat die menschliche Identität in eine Vielfalt der Erscheinungen aufgefächert. Lediglich eine Spur bleibt erhalten, und der Körper der Fotografierten als Schattenriss.
„Ich und Ich“ lautet der Titel einer frühen Arbeit. Sie beschloss die Ausstellung „Deutsche Fotografie“ am gleichen Ort, in der sich noch einmal der Glaube manifestiert hatte, das technische Medium Fotografie fixiere die Unverwechselbarkeit von Menschen und Geschehnissen. Nicht von ungefähr hatte sich anno 1839 der Pariser Polizeipräsident für den Ankauf des Patents der fotografischen Pioniere durch den Staat stark gemacht, um es zum allgemeinen Nutzen frei zu geben. Fahndungs- und Passfotos waren die Konsequenz. Mit „Ich und Ich“ aber hat ein neues Kapitel der Fotografie begonnen, das „Ich“ verwandelte sich in ein Bild, in ein Image bestenfalls.
„Mir ging es nie um Fotografie, mir ging es ums Bild“, erläutert der Künstler seine künstlerischen Absichten, und Peter Weibel, wortseliger Coach der imponierenden Soloschau, markiert die Trias von „Körper, Identität und Geschlecht“ als Dreh- und Angelpunkte des Werkes. Natürlich sind das drei Aspekte einer Sache, und Jürgen Klauke ist ihr bis in die feinsten Verästelungen nachgegangen, Körper, Identität und Geschlecht bilden gleichsam das Feld seiner künstlerisch-fotografischen Untersuchungen, das sich, je nach stärkerer oder schwächerer Anziehungskraft des einen oder anderen Magneten, unaufhörlich verändert, wobei die drei Schlagworte lediglich Umrisse liefern und die Bildreihen erst die konkreten, aber variablen Anschauungsmodelle. Sie entwerfen die fragilen Stadien menschlicher Existenz an den Schnittstellen von Realität und Fiktion, Substanz und Medium, Moderne und Postmoderne, eingespannt zwischen Verlangen und Erfüllung, Anwesenheit und Abwesenheit – jede Fotografie dokumentiert das Sichtbare als unweigerlich abwesend –, Exzess und Leere, Berührung und Einsamkeit, Liebe und Tod, Gottesschöpfung und Ersatzteillager. „Hinsetzen – Aufstehen“, hallen die monotonen Kommandos einer aufgezeichneten Performance durchs Atrium, unterbrochen von einem gehauchten, verfremdeten und zärtlich gesprochenen „Ich liebe Dich“, und tauchen die Bilder an den Wänden in eine Atmosphäre emotionaler Irrungen und Wirrungen. Die Bilder handeln vorwiegend von geschlechtlichen Doppel- und Mehrfachdeutigkeiten, und beim Betrachten erfasst manchen Besucher ein jäher Schwindel.
Überwältigend die Räume mit den großformatigen Sequenzen der Werkgruppen „Formalisierung der Langeweile“ und „Sonntagsneurosen“ (1990/92), schwarz auf tief- oder blauschwarzem Fond die Bilder. Jürgen K. die Person, agiert mit anderen, verschwindet, wird Bestandteil einer weiblichen Figur im langen Kleid und dann ersetzt durch Hüllen und Prothesen, Anzüge, Hüte und Stöcke. Zuvor hatte sie die Bildfolge „Pro Securitas“ (1987) bereits auf den schemenhaften Reflex eines Wesens jenseits der empirischen Welt reduziert. Die geheimnisvollen Objekte um sie herum muten gleichwohl bedrohlicher an als der Umstand der physischen Auslöschung mittels Durchleuchten. Mit der Suite „Desaströses Ich“ (1996/98) treten schließlich eigens engagierte Akteure an ihre Stelle, um sich im Endeffekt als Ornamente in Menschengestalt dieser machtvoll auf Rot abgestimmten Bilder zu erweisen.
Trotz ihres Umfangs überfordert die vom Künstler mit aller Sorgfalt inszenierte und von einem prächtigen Katalog (DM 118,-) begleitete Ausstellung nicht die Aufnahmefähigkeit. Sie verzichtet auf strenge Chronologie schlägt vielmehr spannungsvolle Brücken über die Zeit, und selbst die Spielstätte für die Videoprojektion lässt keine Wünsche offen. Man sieht, wie ein menschlichen Individuum in ein Objekt verwandelt, also objektiviert wird. Das Spektrum der Fotografie - in der Ausstellung „Absolute Windstille“ von Jürgen Klauke wird es wirklich zum Ereignis.
© Klaus Honnef