Tausende Zahlen, aber keine Welt: Der Triumph der digitalen Kamera entfremdet die Fotografie von der Wirklichkeit (2005)

Die Welt, 22. August 2005

Agfa und Leica sind klangvolle Namen und bekannte zudem. Sie zählen zu den Markenzeichen deutscher Industrie. Die Fotografie nicht nur in Deutschland verdankt ihnen entscheidende Impulse. Viele Menschen sprechen sie mit Respekt aus. Selbst Menschen, die sich für das Feld der Ökonomie nur aus dem Blickwinkel ihrer Haushaltskasse interessieren. Die Namen stehen für Erfindergeist, technische Präzision und wirtschaftlichen Erfolg. Doch der eine wie der andere drohen zu verschwinden. Agfa befindet sich in Insolvenz, und Leitz, deren stolzestes Produkt die legendäre Leica ist, in schweren Turbulenzen. Sie hätten die technische Entwicklung verschlafen und zu stur am Altbewährten festgehalten, sagen die Ökonomen. Die nüchterne Feststellung lässt sich schwerlich bestreiten. Dennoch mangelt es ihr am Blick für die tieferen Ursachen.

Die wirklichen Gründe liegen in einer radikalen Veränderung der industriellen Herstellung und Wiedergabe von Bildern. Die Veränderung erstreckt sich auf die Maschinen und die Träger der Bilddaten gleichermaßen. Und sie strahlt über den engeren Bezirk der Technik weit hinaus, weil sie zumindest mittelbar in das fein gewebte Verhältnis der Menschen zu ihrer materiellen Umwelt eingreift und es allmählich, aber nachhaltig verändert.

Der oft strapazierte Begriff der Revolution ist nicht zu hoch gegriffen, um den Tatbestand zu charakterisieren. An Stelle des bislang üblichen Negativfilms, der relativ aufwendig entwickelt werden muss, ehe man zu positiven Bildern gelangt, tritt in immer stärkerem Ausmaß der Computerchip. Doch der Übergang von der analogen zur digitalen Fotografie ist alles andere als ein Übergang in kontinuierlichen Schritten. Dahinter verbirgt sich nichts weniger als ein vollständiger Bruch mit der gewohnten Form von Wahrnehmung und Darstellung der sichtbaren Realität.

Oberflächlich betrachtet, scheint der Wandel geringfügig zu sein. Nach wie vor löst das Licht den fotografischen Prozess aus. Mit dem kleinen Unterschied indes, dass ein Computerchip, versehen mit einer Menge lichtempfindlicher Elemente, die Aufgabe des Empfangs und Festhaltens der Lichtimpulse übernimmt, die das fotografische Motiv zurückwirft, statt der vertraute Silberfilm wie in der analogen Fotografie. Zwar wird mit der neuen Technik auch die Dunkelkammer überflüssig und damit der Ort, der den Gründungsmythos der Fotografie verbürgte. Aber nach wie vor werden Bilder auf Papier abgezogen, sofern sie jemand für aufbewahrenswert erachtet, und nach wie vor bedarf es beträchtlichen Talents und kreativer Phantasie, um hervorstechende Bilder zu verwirklichen.

Doch in dem kleinen Unterschied zwischen Chip und Film steckt des fotografischen Pudels Kern. Denn das winzige Halbleiterplättchen mit seinem verwickelten Innenleben verdichtet das von der Optik der Kamera erfasste Motiv nicht in anschaulich proportionaler Entsprechung wie ein "klassisches" fotografisches Filmbild, sondern es verwandelt die aufgefangenen Daten in ein theoretisch simples, praktisch höchst kompliziertes Zahlensystem, das mit dem von der Kamera anvisierten Motiv gar nichts mehr gemein hat.

Das Moment der zeitlichen und räumlichen Korrespondenz fällt aus. Eine eigenmächtige Rechenoperation ersetzt und simuliert das Ab-Bild des aufgenommenen Motivs. Auf dem fertigen Bild hinterlassen die Gegenstände des fotografischen Interesses in Wahrheit keine einzige Spur. Tante Else und Onkel Otto brauchen nicht mehr eigens nach Pisa zu fahren, um den schiefen Turm zu stützen. Mit einer Software können sie das gewünschte Bild auf dem Bildschirm selber konstruieren. Vergleichbar den Kindern, die "Malen nach Zahlen" betreiben. Die Konsequenzen sind zwar sichtbar, aber einschneidend. So findet der anhaltende Trend, die ganze Welt in eine Arena der Unterhaltung zu verwandeln, mit den digitalen Medien letztlich seinen angemessenen Ausdruck. Sie entwerfen das Bild einer Realität, das so künstlich ist wie das Lachgeräusch beim Durchlauf oder Comedy-Serien im Fernsehen, jedoch der empirischen Realität täuschend ähnlich. Eine Realität des Als-ob entsteht - die Wiedergeburt der ausgestorbenen Dinosaurier eingeschlossen.

Unvermeidlich übt sich durch ausgiebigen Konsum der Kunst-Wirklichkeit ein schleichender Realitätsverlust ein. Kein Bezirk des Daseins bleibt von der Entwicklung unberührt. Wenn im Vorgriff auf die Bundestagswahlen in den Medien häufiger von der Spannung die Rede ist, die das "Rennen" verspreche, als von den politischen Aspekten, bestätigt dieses eher zufällige Indiz, dass die Kategorien der Unterhaltung längst auch in die Politik überlappen. Sicher - schon Fotografie und Film haben den Trend befördert, aber stets bestand die Sicherheit, dass die vorgeführten Dinge mindestens eine Spur des erfahrbar Realen enthielten. Was ihre Bilder zeigen, hat sich tatsächlich vor der Kamera befunden.

Eine andere Konsequenz betrifft das in Bildern versammelte Gedächtnis der Menschheit und seine Aufbewahrung. Wer erinnert sich nicht, wie man kurz vor dem Millenniumswechsel verzweifelt nach Fachleuten suchte, die noch die technisch überholten Dateien zu lesen fähig waren, um ihre Umstellung auf die neue Zeitrechnung bewerkstelligen zu können und denkbare Fehlschaltungen mit unübersehbaren Folgen zu verhindern. Auch ein digitalisiertes Foto-Archiv wird irgendwann, allerdings mit unerbittlicher Zwangsläufigkeit unlesbar. Deshalb wird die Industrie nicht müde zu betonen, ausschließlich ein Papierabzug garantiere, dass ein Bild 30 Jahre ohne Qualitätsverlust überstehe. Die problemlose Entsorgung großer Teile des kollektiven Bildgedächtnisses, bei Nichtgefallen oder Geldmangel, erleichtert die digitale Technik dennoch erheblich.

Gleichwohl hält ihr Siegeszug an. Im Jahr 2003 verkaufte die Industrie in Deutschland 4,9 Millionen Digitalapparate, fünf Mal mehr als Spiegelreflexkameras. Das japanische Unternehmen Fuji veranschlagte 2004 über zwei Milliarden Abzüge von Chips-Aufnahmen; Tendenz steigend. Der Gewinneinbruch in diesem Jahr wird auch mit der schwachen Nachfrage nach Filmen erklärt. Auch Eastmann Kodak, Amerikas weitgrößter Hersteller von Foto-Material, verbucht von Jahr zu Jahr wachsende Verluste, weil die Nachfrage nach Filmen rapide sinkt, und sieht sich deshalb veranlasst, seine Belegschaft bis 2007 um 40 Prozent zu verringern. Kodak, Agfa, Leitz verkörpern die Symbole einer allmählich verblassenden Epoche der Kulturgeschichte. Doch Bilder werden auch künftig in Massen und von Rang gemacht. Es fragt sich nur, von welcher Art.

© Klaus Honnef