Die Bilder und die Wirklichkeit (2014)

L Fritz. Internationale Photoszene Köln, 2014

Sie sehen wie Spitzbuben und Galgenvögel aus. Sie tragen die Gesichter von tagesscheuem Gesindel. Die verschlagenen Blicke empfehlen näher Tretenden Vorsicht. Figuren wie sie bevölkern die sozialkritischen Romane von Charles Dickens und Émile Zola. Ihre Kleidung ist gleichwohl erlesen. Beste Stoffe. Seide und Satin. Prachtvolle Orden aus Gold und Edelstein schmücken sie. Doch nicht die Führungskräfte einer Familie aus dem kriminellen Milieu haben sich vor der Staffelei des Malers Francisco Goya eingefunden, sondern die königliche Familie Spaniens.

Der erste Eindruck täuscht nicht einmal. Nach allem, was wir wissen, nehmen sich die finsteren Typen aus den Seifenoper-Serien des US-Fernsehens wie „Dallas“ oder „Dynasty“ gemessen am spanischen König Ferdinand VII. und seinem Bourbonenhof wie Chorknaben aus. Offenbar besaß Goya die Gabe des genauen Blicks. Fähig, den pompösen Glanz des höfischen Zeremoniells zu durchschauen und den falschen Schein zu durchdringen. So mag es gewesen sein. Goyas scharfer „Realismus“ ist deshalb in der Literatur zu Recht oft hervorgehoben und gefeiert worden.

Ob die optische Wiedergabe der Königsfamilie aber derart krass und entlarvend gemeint war, wie es uns im jetzigen Anblick erscheint, möchte ich mit einem dicken Fragezeichen versehen. Denn es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass die hohen Herrschaften nichts dagegen gehabt haben, wie Schurken und „Scheiße in Seidenstrümpfen“ – ein geflügeltes Wort des Bischofs von Autun und langjährigen französischen Außenministers Talleyrand –, dargestellt zu werden. Mit blanker Blindheit waren die spanischen Aristokraten nicht geschlagen, und die außerordentliche Kunstfertigkeit des Malers wäre kein Bonus gewesen, um ihm den Kopf zu retten. Vielmehr hätten sie, vermute ich, ihren geschätzten Hofmaler ohne Umschweife der Garotte überantwortet, wäre ihnen eine solche Absicht ins Auge gesprungen. Für die Vermutung, dass sie mit ihren Bildern aus der Hand Goyas zufrieden waren, gar, dass sich ihr Selbstbild von diesen kaum unterschied, spricht einiges, zumal die Porträts der Herrscherfamilie repräsentativen Charakter hatten. Nicht zuletzt fiel ihnen die Aufgabe zu, sich und ihresgleichen zu beeindrucken.

Ohne allzu tief in die historischen Verhältnisse der spanischen Monarchie am Anfang des 19. Jahrhunderts einzutauchen – das Beispiel zeigt, dass wir die Bilder früherer Epochen, auch wenn sie in einem uns weitgehend vertrauten Bildschema auftreten, mit anderen Augen betrachten als ihre Zeitgenossen. Ich meine es weniger im selbstverständlichen, im physiologischen Sinne, sondern in dem Sinne, dass unsere Wahrnehmung völlig anders trainiert ist als die Wahrnehmung derer, an die sich die Bilder damals richteten. Dass in anderen Worten nicht nur die Modi der Darstellung einem historischen Wandel unterliegen, sondern in gleichem Maße die Modi der visuellen Erfahrung. Was überspitzt ausgedrückt heißt, dass wir nicht sehen, was wir sehen, sondern was wir wissen.

Seit mindestens sechs Generationen entwerfen die Bilder des Mediums Fotografie – anlog und digital – unser Bild der sichtbaren Erfahrungswelt. Sie prägen deren Anschauung ebenso wie unser Verhältnis zu ihr und nicht weniger das Verhältnis zu uns selbst. Mit welchen Konsequenzen ist zwar Gegenstand unzähliger Abhandlungen, verliert sich aber im Reich der wissenschaftlichen Spekulation. Dabei dürfen wir die übrigen Modelle, der Erfahrungswelt und dem eigenen Ich zu begegnen, wie sie die Wissenschaften der Psychologie und Geschichte entworfen haben, nicht ausblenden. Beide im Übrigen Kinder des 19. Jahrhunderts wie die Fotografie. Eine psychologisch motivierte Interpretation seiner Porträts wäre Ferdinand und Konsorten denn auch ebenso völlig unverständlich gewesen wie eine kriminalistisch eingefärbte Sicht.

„Photography Changes Everything“ stellt der amerikanische Kurator und Kritiker Marvin Heiferman im jüngsten, von ihm initiierten und herausgegebenen Buch lakonisch fest, und Forscher der meisten einflussreichen wissenschaftlichen Disziplinen der Gegenwart, von der Biologie bis zur Medizin, von der Astronomie bis zur Physik, von den Kommunikations- bis zu den Kunstwissenschaften bekräftigen seine These in knappen und präzisen Essays. Das Erstaunen darüber, wie sehr sich unsere Beziehungen zu den Phänomenen, die wir als Realität begreifen, im Vergleich zum Wirklichkeitsverständnis unserer Vorfahren umgewälzt haben, wächst bei der Lektüre des Buches von Seite zu Seite. Kaum ein Gebiet blieb unberührt. Vieles ist inzwischen so selbstverständlich, dass es einer gründlicheren Ausleuchtung bisher nicht für wert erachtet wurde.

Würden wir etwa aus gemalten und gezeichneten Bildern den Schluss ziehen, es sei „so gewesen“, wie diese Bilder es zeigen? Eine Fotografie erscheint uns erheblich „wirklichkeitsgetreuer“, „wahrer“, authentischer als ein Gemälde oder eine Zeichnung vom selben Motiv. Doch mit welchem Recht? Dabei vergegenwärtigt eine gezeichnete Version des betreffenden Motivs die entscheidenden Details bisweilen akkurater als eine Fotografie, und die Archäologen halten ihre Fundsachen unvermindert in beiden Bildformen fest. Ist die Fotografie deshalb „wirklichkeitsgetreuer“, weil das Motiv sich mithilfe des Lichts ins Bild förmlich eingebrannt hat und es dadurch „objektiviert“ hat? Weil eine Maschine statt eines künstlerischen Auges und Hand den Abbildprozess vollzogen hat? Warum empfinden wir andererseits Goyas Porträts der spanischen Herrscherfamilie als „realistischer“ denn die Herrschaftsbilder von Velázquez und Tizian? Womöglich, weil es uns zur Gewohnheit geworden ist, gemalte und gezeichnete Bilder in der Optik der fotografischen Linse anzusehen? Geeicht auf detailgesättigte Darstellung? Oder, weil das Medium Fotografie schon früh in der theoretischen Literatur mit dem Tod assoziiert wurde? Immerhin behauptete der „göttliche Aretin“, Tizians Bildnisse verliehen den Porträtierten ein ewiges Leben.

Warum billigen wir ferner den Bildern der „Schwarz-Weiß-Fotografie“ einen höheren Grad an Realismus zu als der tatsächlich „realistischeren“ Farbfotografie? Nur eine Frage des Alters der Betrachter? Wenn es ernst wird, bevorzugen massenhaft verbreitete Bilderblätter (und das Fernsehen) immer noch häufig das herbe Schwarz-Weiß. Dagegen gehört zu den artifiziellsten Gattungen des Kinos der (schwarz-weiße) „Film noir“ mit seinen nächtlichen Kulissen und den Lichtreflexen auf dem regennassen Straßenpflaster. Nichts desto trotz hat die Kritik stets seinen ungeschminkten Realismus gepriesen.

Die fotografischen Bilder haben sich tief ins komplexe Gefüge unserer Erinnerungen eingenistet. Womöglich verschwinden sie allmählich wieder, seit die Smartphone-Fotografie sie verflüssigt und flüchtig gemacht hat und einen völlig neuen Umgang mit dem Medium eröffnete. Angesichts der bezwingenden Bilder Walker Evans‘ vom Amerika der schweren Depression im Kielwasser der Weltwirtschaftskrise stellte sich der große Kurator John Szarkowski unwillkürlich die Frage, ob sich seine Erinnerungsbilder dieser Zeit dem eigenen Erleben oder den Fotografien von Evans verdanken? Geht über die Jahre der Depression in den USA die Rede, steigen unweigerlich seine und die Bilder der übrigen Fotografinnen und Fotografen im Auftrag der legendären Farm-Security-Administration vor unserem geistigen (!) Auge auf. Auch meine Erinnerungsbilder des Zweiten Weltkriegs und die ersten Nachkriegsjahre sind schwarz-weiß gefärbt.

Nicht allein die Bilder unseres Gedächtnisses werden in einer Weise von Bildern fotografischen Ursprung kolonisiert, dass eine Differenzierung zwischen unmittelbarer und mittelbarer optischer Erfahrung schier unmöglich geworden ist. Erschwert natürlich durch den Umstand, dass wir praktisch blind den Mutterleib verlassen und das Sehen von Grund auf lernen müssen.

Folgenreicher noch als die Besetzung unserer Erinnerung ist allerdings, welchen Einfluss die fotografischen Bilder auf unsere akute Wahrnehmung ausüben. Inwieweit greifen sie über diese Vermittlung in unsere Entscheidungen und Handlungen direkt ein? Ein bezeichnendes Beispiel liefern die People-Magazine mit den leeren Fotoshop-Gesichtern von der Stange. Dr. Frankenstein was here. Erschreckender als diese Einheitsgesichter ist, dass sie einen bizarren Trend befördert haben, der schon Teenager zum Glättungstechniker treibt. Knapp 230 Jahre später und auf eine solche Sicht der Dinge abgerichtet, hätte die spanische Herrscherfamilie ihren Hofmaler sofort dem Scharfrichter überantwortet.

Was haben die fotografischen Bilder mit uns angestellt? Was stellen sie mit uns an? Dass sie unser Gesichtsfeld, das Terrain des Sichtbaren enorm erweitert haben, leidet keinen Zweifel. Sowohl der Makro- als auch der Mikrokosmos ist kein Buch mehr mit sieben Siegeln – viele der Siegel, natürlich nicht alle, hat die Fotografie gebrochen. Zahlreiche medizinische Operationen gelingen nach Bildern besser als nach unmittelbarem Augenschein. Wir sind mit Neil Armstrong auf dem Mond herumgestapft und haben die Oberfläche des geheimnisvollen Planeten Mars überflogen. Zunächst aber haben uns die fotografischen Bilder „unsere eigene“ Welt vor Augen geführt, bevor wir sie physisch, wenn auch bloß vorübergehend in Besitz nehmen konnten. Paris, Venedig, London und New York, San Francisco und Shanghai – ihr fotografisches Bild hat unsere Sicht geformt, ehe wir sie sahen.

Das Gesicht Ferdinands VII. war nur dem inneren Zirkel des Hofs und den Höfen der Fürstentümer bekannt, mit denen Spanien Kontakte hatte. Die meisten Herrschaftsrepräsentanten unserer Zeit sind Hausgenossen und vertrauter als das Gros der Verwandten.

Auch das Medium Fotografie und die moderne Demokratie sind gemeinsam herangewachsen. Dabei hat die Fotografie immer nachhaltiger in unser Verhältnis zur Politik eingegriffen, und die Politik allmählich auf die Ebene des Show-Business verschoben. Den Reichspräsidenten Ebert brachte die „Berliner Illustrirte“ noch unbeabsichtigt um seinen soliden Ruf, als sie ihn auf einem Cover in Badehose abbildete. Der russische Präsident Putin zieht aus ähnlichen Fotografien seine Popularität wie Dekaden vorher ein junger US-Präsident. Und bei jedem Wahlkampf grinsen uns die alterslosen Retortengesichter derer an, die um unsere Wählergunst werben. Der fotografische Glamour hat sich ihrer Gesichter bemächtigt; erster Schritt auf dem Weg zum Verlust der Glaubwürdigkeit.

Nachdem wir alles wissen über die Intentionen der Fotografinnen und Fotografen, manches über die Intention der Bilder, was auch nicht identisch ist, etliches über die Intention des Mediums, ist es langsam an der Zeit, dass wir, an die sich sämtliche der genannten Kräfte adressieren, auf die Bühne der Reflexion gelangen. Was tun die fotografischen Bilder eigentlich mit uns, wenn wir die sichtbare Welt durch das Fenster der Fotografie sehen?

© Klaus Honnef