Kunstkritik unter Artenschutz (2009)

KUNST Magazin Berlin, 0909

Als sich anno 1949 eine Gruppe europäischer Kunstkritiker in Paris zur Association internationale des critiques d’art, kurz AICA, zusammenschloss, näherte sich ihr Metier dem Zenith seiner Macht. Es hatte sich zu einem eigenständigen Beruf entwickelt und begann, massiv seinen Einfluss auf die Wege der zeitgenössischen Kunst auszuüben. Eine Ursache lieferte die Geschichte: Das kunst- und kulturfeindliche Nazi-Regime, das jede Form von Kritik verboten und unterdrückt hatte, war zusammengebrochen. Das besetzte Europa hatte sich aus dessen Zwängen befreit oder – präziser – befreien lassen. Kritik war eine Äußerungsform der wieder gewonnenen Freiheit.

Kunstkritik ist gleichwohl keine neue Disziplin. Ursprünglich waren es Künstler, die sie betrieben. Sie verfassten Traktate zu technischen oder anderen pragmatischen Fragen der Kunst. Die ideologischen Programme schrieben ihnen im Sinne der klerikalen oder säkularen Auftraggeber die Humanisten vor. Im Absolutismus setzten Akademien die ästhetischen Maßstäbe und über-wölbten das einstige Handwerk mit einem theoretischen Gerüst. Zwar überlebten die Akademien auch die bürgerliche Revolution. Doch es vergingen Jahrzehnte, bis die klassischen Maßgaben unter dem Druck des bürgerlichen Individualismus zugunsten einer künstlerischen und phasenweise bohèmehaft politischen Opposition fielen. So trat die Avantgarde ihr Regime an und berief sich fortan auf eine Art negativer Ästhetik, auf eine Ästhetik, die sich gegen die künstlerische Überlieferung und ihren „falschen Schein“ richtete und diese gleichwohl in der Institution des Museums, wo sie in konkreter Gestalt gesammelt wurde, unfreiwillig, aber umso nachhaltiger bestätigte.

Im Widerstreit der künstlerischen Diskussionen und mit dem Aufkommen der bürgerlichen Presse entfaltete sich der Modus einer von Künstlern und politischen Autoritäten relativ unabhängigen Kunstkritik. Schriftsteller, bisweilen mit philosophischem Hintergrund, übernahmen das Geschäft. Diderot und die Enzyklopädisten eröffneten den Reigen im Lichte der Aufklärung. Baudelaire, die Brüder Goncourt und Zola variierten ihn, und Appollinaire, Max Jacob, André Salmon und Julius Meier-Graefe legten Anfang des 20. Jahrhundert das Fundament, auf dem die Kunstkritik der zweiten Nachkriegszeit ihr Herrschaftsgebäude bauen konnte. Kein Zufall, dass französische Namen in der Liste überwiegen.

Von Paris aus liefen auch die Vorbereitungen dazu, eine deutsche Sektion zu gründen; 1951 war es so weit, dass die deutsche AICA Wind unter die Segel bekam. Man begriff sich als Eliteclub. Zwei Drittel der Anwesenden in den Versammlungen mussten zustimmen, um ein neues Mitglied zu wählen. Zu den Zielen des internationalen Verbandes gehörte es, die jüngsten künstlerischen Tendenzen mit Sympathie zu begleiten und die Kritiker untereinander zu vernetzen. Die AICA erreichte allerdings nie dieselbe Machtposition wie manche ihrer Mitglieder. Die maßgeblichen Kunstkritiker warfen sich in die Robe von Anwälten der autonomen Kunst. Deren ästhetisches Prinzip bestand darin, sich jeder politischen oder sonstigen Instrumentalisierung zu verweigern und sich ausschließlich an eigenen Gesetzmäßigkeiten zu orientieren. Die galt es gegen konservativ-reaktionäre Gesinnungen und ein vorwiegend ignorantes Publikum zu verteidigen und gegen die Herausforderungen der industriell-kommerziellen Künste durchzusetzen. Zwischen Scylla und Charybdis navigierte die Kunstkritik die Schaluppe der Kunst in die Bucht der Abstraktion.

Die abstrakte Kunst stieg mit den engagierten Argumenten der Kunstkritik zum Markenzeichen der künstlerischen Freiheit schlechthin auf. Die wichtigsten Vertreter der Branche schrieben in den Feuilletons der überregionalen Zeitungen, den Kunstzeitschriften, veröffentlichten im Rundfunk, verfassten die wenigen Bücher zum Thema und organisierten oder berieten maßgebliche Ausstellungen wie die documenta; mitunter in Personalunion. Kaum vorstellbar, dass die Abstraktion ohne Kritiker wie Will Grohmann, Werner Haftmann, John Anthony Thwaites und Hanns Theodor Flemming in (West-) Deutschland, ohne Clement Greenberg und Robert Rosenblum in den USA zur Erfolgsstory geworden wäre. Ihre Ansichten bestimmen nach wie vor die geschriebene Geschichte der westlichen Nachkriegskunst. Die figurative Kunst dieser Zeit ist deshalb ein vergleichsweise unbekanntes Kapitel.

Gemessen daran und auch an der „einvernehmlichen“ Kritik, die den ephemeren Kunstrichtungen, Fluxus, Prozess- und Konzept-Kunst zum Durchbruch verhalf, spielt die Kunstkritik Anfang des 21. Jahrhunderts nur eine randständige Rolle. Die Gründe sind mannigfaltig: Die Kunst der Gegenwart benötigt keine Anwälte. Sie ist weitestgehend akzeptiert und hat den Oppositionsgeist aufgegeben. In einer Konsum- und Mediengesellschaft läuten oppositionelle Gesten ohnehin nur die nächste Modewelle ein. Nie waren die ästhetischen Maßstäbe individualistischer und die Szene pluralistischer. Das unterhaltsame Kunterbunt der Kunstmärkte prägt das Bild der Kunst, und die Museen werden ihnen zunehmend ähnlicher. Es bedarf keines Cicerones, um den Dschungel scheinbarer Unübersichtlichkeit zu bewältigen. Denn der Dschungel ist die Attraktion. Wie einst die Westernfans dank überlegener Seherfahrung als Spezialisten in punkto Kenntnisse die Filmkritiker ausstachen, haben Fernsehen, Computerspiele und Internet die heutigen Kunstkonsumenten zu Experten der visuellen Wahrnehmung gemacht.

Die Kunst der Vergangenheit und die Museen „alter Schule“ haben ihre frühere Geltung als Positionslichter verloren. Mit einschneidenden Konsequenzen für das Selbstverständnis der Kunst. Es zählt die pure Gegenwart. „Museen der Gegenwartskunst“ oder private Sammlermuseen liefern die Foren. Die Kunstkritik hat ihre sachlich-fachliche Meinungsführerschaft den privaten Sammlern überlassen müssen. In direktem Kontakt mit den Künstlern eignen diese sich die Kompetenz an, um zum ästhetischen (Kauf-)Urteil zu gelangen. Artenschutz genießen die Kunstkritiker nicht.

© Klaus Honnef