Nach 74 Jahren stellt Kodak die Produktion seines legendären Kodachrome-Films ein (2009)

Die Welt, 24. Juni 2009

Wie viele unvergessliche Momente längst vergessener Urlaube hat er nicht festgehalten oder, wie es früher hieß, verewigt? – der Farbfoto-Film mit dem Namen Kodachrome. Unzählige! Mama und Papa in Italien, Else und Ludwig in Ägypten, Onkel Josef ohne Tante Friedchen in Thailand... Viele werden sich noch mit leichtem Gruseln an die unvergesslichen Abende mit nicht enden wollenden Diaprojektionen erinnern, die Verwandte und Freude in der stillen Hoffnung, etwas Neid zu erregen, den Daheimgebliebenen nach Rückkehr von einer Reise zu bescheren pflegten. Inzwischen verstauben die Dias oder Papierabzüge, soweit sie sich überhaupt erhalten haben, und bleichen aus. Was niemanden daran hindern wird, auch künftig unverdrossen die Kamera zu zücken, um aufzunehmen, was bereits millionenfach aufgenommen worden ist.

Weil die Nachfrage gleichwohl dramatisch nachgelassen hat, der Film Kodakchrome also selber allmählich vergessen worden ist, hat Eastman Kodak, einst ein Gigant der fotografischen Industrie, am Wochenbeginn angekündigt, dessen Produktion einzustellen. Damit verschwindet wiederum ein Monument der industriellen Kultur von der Bildfläche, eine „Produkt-Ikone“, wie Mary Hellyar, Präsidentin der fotografischen Aktivitäten des Unternehmens emphatisch erklärte. Times goes by...

Als die amerikanische Firma den Kleinbilddiafilm anno 1935 auf den Markt brachte, galt er als das Non-Plus-Ultra des technischen Fortschritts. Jetzt ist er seinerseits technisch überholt und hat endgültig ausgedient. Nicht nur die fortschreitende Digitalisierung des Mediums hat sein Ende eingeläutet, auch die Entwicklung modernerer analoger Filme. Kein Staat in Sicht, der ihn retten mag. Zuletzt, erklärte Kodak, habe Kodachrome weniger als 1 Prozent der Filmverkäufe ausgemacht.

Schon die Pioniere des Mediums hatten von der Farbfotografie geträumt. Sie galt ihnen als die Vollendung des fotografischen Verfahrens schlechthin. Seit den gelungenen Versuchen der Gebrüder Lumière mit einem aufwändigen additiven Farbverfahren kurz nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert waren farbige fotografische Bilder keine Seltenheit mehr. Doch erst mit der Erfindung des dünnen Mehrschichten-Farbumkehrfilms begann die eigentliche industrielle Phase der Farbfotografie. Zwar hatte nahezu gleichzeitig mit Kodak auch der deutsche Konkurrent Agfa einen ähnlichen Farbfilm auf den Markt gebracht. Doch der amerikanische Konzern bot die leuchtenderen Farben und hatte auf Dauer den längeren Atem. In punkto Farbkontraste, Feinkörnigkeit und Haltbarkeit übertraf der Kodachrome sämtliche Mitbewerber und eroberte sich binnen weniger Jahre ein Massenpublikum.

Irgendwie wirkten die fotografischen Bilder von Kodachrome immer ein bisschen schöner als die fotografierte Realität, und letzten Endes überglänzten sie schließlich die persönlichen Erinnerungen, so dass mit einem Mal alles so gewesen ist, wie es die Bilder, zumal als brillant ausgeleuchtete Dias, schilderten. Es war, als hätte immer Die Sonne geschienen. Vermutlich hat der Kodachrome-Film auch nachhaltig den verbreiteten Eindruck befördert, dass die Schwarz-Weiß-Fotografie paradoxerweise die „realistischere“ Variante des technischen Mediums sei, weil die Welt für die Meisten gewöhnlich nicht annähernd so schön war wie Welt auf den Kodachrome-Aufnahmen. Dass die Werbung sich die besondere Ausstrahlung des Farbfilms zunutze machte, verwundert deshalb nicht weiter. Noch vor dreißig Jahren notierte ein Lexikon der Fotografie, dass „85 % aller Kamerabesitzer Farbfilme“ verwendeten, davon bestritt Kodakchrome den Löwenanteil. Längst aber haben die Chips den Film ersetzt, und das Licht übermittelt die fotografierten Motive nicht mehr unmittelbar auf die empfindliche schicht eines Films, sondern löst in der Kamera lediglich einen Rechenprozess aus, der ein durch und durch künstliches bild der fotografierten Realität erzeugt. Auch die große Fotografin Gisèle Freund realisierte Ihre berühmten Porträts der Dichter, Künstler und Musiker im Frankreich der Zeit zwischen zwei Weltkriegen mit dem fabelhaften Kodachrome-Film. Die meisten Ihrer Originalabzüge hatten an Frische und Farbdichte auch über dreißig Jahre nach der jeweiligen Aufnahme nichts eingebüsst. Vereinzelten waren ausgeblichen, obwohl sie unter gleichen Bedingungen gelagert worden sind wie die bestens Konservierten. Vielleicht das schönste Denkmal setzte der französische Künstlerstar Christian Boltanski dem amerikanischen Farbumkehrfilm. Nach dem Muster der populärsten Bildmotive in Kodachrome, wie sie Kodak häufig auch für die eigene Werbung nutzte, schuf er ein Projekt mit dem bezeichnenden Titel „Modellbilder“. Prachtvolle Sonnenuntergänge, die Freundin auf dem Markusplatz vor dem Campanile, Blumenrabatte die Menge, herrliche Strände, Segelboote auf dem See…, alles was schon in technischer Perfektion überreichlich vorhanden war, sei es von Werbefotografen oder von Amateuren angefertigt, fotografierte er noch einmal getrau nach den populären Vorbildern, und in einer gemeinsamen Ausstellung des Rheinischen Landesmuseums Bonn 1976 überhöhte Annette Messager das Panoptikum noch, indem sie die unaufhörlich fotografierten Motive mit Farbstiften in Zeichnungen verwandelte. Es war trotz großer Sommerhitze eine ungeheuer erfolgreiche Schau.

Mit einer Träne im Knopfloch sagt ein bekennender Kodachrome-Amateur by, by adieu. Es war zu schön, um wahr zu sein.

© Klaus Honnef