Die Avantgarde war eine Episode. Zwei Ausstellungen erklären die Fotografie zum trojanischen Pferd für die Tradition (2004)

Die Welt, 16. Juni 2004

Was Skylla und Charybdis für den listenreichen Odysseus, waren Mode und Museum für die allmählich verdämmernden Kunst der Moderne. Drohten dem Sieger über Troja Meerungeheuer und Höllenstrudel zugleich, sah sich die modernistische Kunst gezwungen, zwischen der Doktrin beständiger Erneuerung und dem konträren Verlangen nach ewiger Dauer zu manövrieren. Das spannungsvolle Verhältnis löste sich erst, als das Museum am Ende des vergangenen Jahrhunderts über die Mode triumphierte und sie sich einverleibte. Seither beschränken sich beide Agenten westlicher Kultur im Wesentlichen auf die Variation immer schneller auf- und ablebender Blütenmuster.

Während das Museum of Modern Art in der Berliner Nationalgalerie noch einmal die Fama der heroischen Moderne feiert und im heimischen New York längst deren Revision erprobt, haben sich derweil die meisten Museen Europas von der einseitigen Sicht auf die Kunst aus dem Blickwinkel der Avantgarde mehr oder weniger stillschweigend verabschiedet. In den jüngeren Zeugnissen der Werteskala zeitgenössischer Kunst überschatten Picasso und Matisse wieder Duchamp und Dada sowie die Vertreter abstrakter samt konzeptueller Tendenzen. Figurative Maler wie Bacon, Balthus, Baselitz, Freud, Fischl und Pearlstein gehören jetzt zum Kernbestand und haben den Ruch der Außenseiter verloren. Neben sie treten mit wachsender Anzahl und wachsendem Gewicht die Namen von Professionellen der einst gering geschätzten technisch-kommerziellen Künste Fotografie und Film wie Bũnuel und Hitchcock, Edward Steichen und Helmut Newton, ganz zu schweigen von Modedesignern wie Saint Laurent und Armani.

Im Vollzug des kulturellen Wandels fiel dem Medium Fotografie die Rolle des trojanischen Pferdes zu. Zwar verdankt sie sich anders als die hölzerne Kriegsmaschine nicht dem Einfall eines einzigen Mannes wie dem Helden von der griechischen Insel Ithaka, sondern eher einer besonderen historischen Konstellation, der Erwartungshaltung einer sich entfaltenden Industriegesellschaft. Lediglich der Ruf, ein Instrument der Täuschung zu sein, ist Ross und Medium gemeinsam. Aber im Gegensatz zur Kunst der Avantgarde, die lauthals den Bruch proklamierte, knüpfte die Fotografie unbeschadet ihrer unterschiedlichen Technik in ästhetischer Hinsicht von vorneherein an die Ausdrucksformen der Kunst vor dem Aufbruch der Moderne an und setzte ihre Tradition fort. Eine Kunst um der Kunst willen war die Fotografie – von einigen Ausnahmen abgesehen – nie. Nicht einmal in ihrer kurzen avantgardistischen Phase, deren Bildleistungen ohnehin rasch Beute der Werbung wurden. Vielmehr stets eine Kunst, die in puncto professioneller wie privater Nutzung tief in den gesellschaftlichen Zusammenhang eingebunden ist und deshalb ihren Gegenstand, so Siegfried Kracauer, auch nicht „vollständig verzehrt“. Dementsprechend erschöpfen sich fotografische Bilder nicht in purer Selbstbezüglichkeit. Sie stellen immer etwas dar, das sie nicht selber repräsentierten.

Als vor rund dreißig Jahren die Museen auf breiter Front die Fotografie zur Kunst promovierten, folgten sie einer verbreiteten Ansicht, der gemäß Kunst ein unwandelbarer Begriff ohne Verfallsdatum ist und sich allein aufgrund eigener und im Prinzip unwandelbarer Gesetze legitimiert. In der üblichen Verwechslung von Zweck- und Nutzlosigkeit übersah man, dass die fotografischen Bilder den herrischen Kunstanspruch des Modernismus relativierten. Nicht ästhetische Autonomie verkörperten sie – sie proklamierten unverhohlen einen ästhetischen Revisionismus. Was die Avantgarde auf den Speicher der Geschichte verbannt hatte, bewahrte sich in der Fotografie: die alten Gattungen der Kunst wie Porträt, Landschaft und Stillleben, kurzum, der verpönte Inhalt samt den vielfältigen Facetten der sichtbaren Realität.

Dass die Avantgarde womöglich nur eine unwichtige Episode in der Geschichte der Kunst war, wie der Kunsthistoriker Martin Warnke behauptet, unterstreicht aufs Eindrücklichste die reich bestückte Sommer-Ausstellung „Das Geheimnis der Photographie“ im Alten Rathaus von Ingelheim. Sie ist, nachdem im vorigen Jahr das Porträt zur Debatte stand, dem Thema „Landschaft & Stilleben“ gewidmet. Bemerkenswert ist die Ausstellung nicht allein wegen der Qualität ihrer Bilder, bemerkenswert ist sie deshalb, weil sie die Bildwelt des 19. direkt in die des 21. Jahrhunderts münden lässt. Die Linie der Kontinuität verläuft von Hill/Adamson, Le Gray und Watkins ungebrochen bis Gursky, Hütte, Nieweg und Sasse aus der berühmten „Becher-Schule“. Die fotografische Avantgarde spart die Ausstellung bewusst aus. Dafür nennt der Katalog die profilierten Pioniere der Fotografie ehrfürchtig „Meister“.

Gleichwohl fristen sie als Künstler in der geschriebenen Geschichte der Kunst allenfalls eine Fußnotenexistenz. Doch wer käme auf die Idee, Cézanne oder van Gogh als „Meister“ zu apostrophieren? In der Biografie Steichens findet sich denn auch kein Hinweis, dass der ehemalige Chef der Luftaufklärung des amerikanischen Expeditionskorps‘ anno 1917 später als höchst bezahlter Fotograf seiner Zeit das Geschäft der Modefotografie industriell betrieb.

Den durchschlagenden Erfolg des Mediums krönt die rasant anschwellende Anerkennung der „klassischen“ Fotografie der frühen Jahre. Vor geraumer Zeit kündigte die Messe „Paris Photo“ sie bereits an. Ihre Bedeutung demonstriert eine üppig ausgestattete Ausstellung der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung in München mit dem Titel „Fotografie und Malerei im 19. Jahrhundert“. Sie versammelt eine Fülle erstklassiger Bilder von Fotografen, die noch technische Erfinder ihres Metiers waren. Angesichts des Aufgebots an Fotografien verblassen die gezeigten Gemälde und Zeichnungen. Im Vergleich zur Ingelheimer Ausstellung entschied sich Kurator Ulrich Pohlmann indes für eine differenziertere Sicht. Einerseits beschränkte er sich strikt auf die Pionierphase, andererseits dehnte er das Feld der Fotografie über das enge Terrain der Kunst auf ihre Anwendung in Kunst, Wissenschaft und Publikationsmarkt aus, betont mithin ihre gesellschaftliche Dimension. Damit öffnet er – je nach Perspektive – den Blick für das Neue oder das Alte der Fotografie im Rahmen der Kunst. Im Focus einer solchen Optik entpuppt sich die Avantgarde plötzlich als „out of fashion“ und ähnlich antiquiert wie die Mode von gestern, die ebenfalls zum Stoff des Museums geworden ist.

© Klaus Honnef