Bernd und Hilla Becher (2002)

Bernd und Hilla Becher. Festschrift. Erasmuspreis 2002, hrsg. von Susanne Lange, Schirmer/Mosel, München 2002

Wenn sich angesichts eines Bildes plötzlich die Zwänge lösen, die alle möglichen Erwartungshorizonte ihm vorschreiben, die inneren und die äußeren, und sich gleichsam ein doppelter Boden auftut, blitzt untrüglich künstlerischer Geist auf. Für Skulpturen, Zeichnungen und Bildensembles gilt das Gleiche. Dank dieses – selten gewordenen - Momentes gehören die fotografischen Bilder von Bernd und Hilla Becher zur Domäne der Kunst. Zwar bestreitet niemand (mehr), dass sie künstlerische Ansprüche souverän erfüllen. Aber es hieße doch, einen entscheidenden Punkt im Beitrag des deutschen Fotografen- und Künstlerpaares zu verfehlen, wenn man sich mit einer diesbezüglichen Feststellung begnügte. Wer lediglich die spezifisch künstlerischen Elemente in den fotografischen Aufnahmen, die meist zu Reihen, Sequenzen und Tableaux gefügt werden, hervorhebt, übersieht das genuin fotografische Erbe, das sich optisch und strukturell nicht minder prägnant behauptet. Siegfried Kracauer, der große Theoretiker der Fotografie, der erst spät als Historiker zum vollen Verständnis des Mediums gelangte, erkannte der Fotografie nicht von ungefähr einen besonderen künstlerischen Status zu: „Gesetzt, Photographie ist eine Kunst, dann eine Kunst, die anders ist: im Gegensatz zu den herkömmlichen Künsten darf sie sich rühmen, ihr Rohmaterial nicht gänzlich zu verzehren.“

Die Gegenstände des Fotografierens spielen in den Bildern von Bernd und Hilla Becher eine beherrschende Rolle. Sie als bloße Vorwände ästhetischer Explorationen zu betrachten, würde bedeuten, die Absichten der beiden Autoren gründlich miss zu verstehen. Die technischen Architekturen, die Wassertürme, Gasbehälter und Hochöfen, die Fördertürme und Fabrikanlagen, denen sie umfangreiche Monografien gewidmet haben, bestimmen maßgeblich die charakteristische Ästhetik ihrer künstlerisch-fotografischen Unternehmungen. Zudem reflektieren sie das technische Medium in zweifachem Sinne: einerseits als industrielle Zeugnisse der gleichen Vorstellungswelt, die auch die Fotografie hervorgebracht hat, andererseits als sozusagen vergegenständlichte Entsprechungen der fotografischen Bildmechanik. Thematischer Vorwurf und Träger der anschaulichen Wiedergabe verschränken sich auf einer kulturellen Ebene.

In der Fotografie hat sich die Wahrnehmung der technisch und industriell geprägten Zivilisation der Moderne objektiviert. Absolute Präzision in der Wiedergabe, radikaler Verzicht auf schmückende Ornamente, strikt neutrales Licht, das die konstruktiven Details und Zusammenhänge der fotografierten Motive offen legt, und die nüchterne Sachlichkeit in der Wahl des Blickwinkels aus Augenhöhe sind die äußeren Merkmale einer scheinbar kunstlosen, aber eminent fotografischen Ästhetik. Einsicht in das konstruktive Prinzip der fotografierten Gegenstände zu vermitteln, ist erklärtes Ziel der Autoren. In ihrem Werk entfalten sie die ästhetischen Positionen der avancierten Fotografie zur höchsten Perfektion und setzen die Tradition des „Neuen Sehens“, die sich in den Namen von August Sander, Karl Blossfeldt, Werner Mantz und – partiell – Albert Renger-Patzsch verkörpert, konsequent fort - allerdings modifiziert durch den texturalen Strukturalismus eines Walker Evans. Gleichwohl geht die Kunst ihrer Aufnahmen nicht vollständig in der Fotografie auf. Auch sie manifestiert sich unübersehbar als Eigenwert, ohne jedoch die Funktion des Widerparts zu besetzen. Dabei knüpfen die Bilder von Bernd und Hilla Becher nicht – wie Fotografien im Allgemeinen – an Prämissen der Malerei an, sondern sie erweitern die Zweidimensionalität bildnerischer Darstellung um eine skulpturale Dimension. Ursprünglich hatten die Fotografen-Künstler die Objekte ihrer fotografischen Darstellung „anonyme Skulpturen“ genannt. Deren plastische Wirkung ist das Ergebnis des angewandten Inszenierungsmodus der einzelnen Bilder zu sorgsam entwickelten Zyklen. Namentlich das Prinzip, die Aufnahmen sowohl nach typologischen als auch nach Gesichtspunkten der greifbaren Erscheinung anzuordnen, relativiert die Abbildeigenschaft des Fotografischen und unterstreicht die Autonomie der vergegenwärtigten Motive. Zeichen und Bezeichnetes fallen zusammen. Bernd und Hilla Becher verwandeln funktionale Industriearchitekturen, die ihre praktische Funktion verloren haben, in Gegenstände der ästhetischen Anschauung. Ihre historische Zeugenschaft büßen diese dennoch nicht ein. Das künstlerische Werk der Bechers siedelt in einer Sphäre der Intermedialität, die es zugleich thematisiert. Es ruht auf fotografischem Fundament. Darüber hinaus vereint es Gegebenheiten der Skulptur, der Architektur, des Films und einer zeichenhaften Körpersprache. Es sprengt die kategorialen Grenzen stilistischer oder sonstiger Bestimmung und eröffnet dem Diskurs über die Welt der Bilder ein noch unerschlossenes Terrain.

© Klaus Honnef